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Zu ebener Erde

Das Erdgeschoß ist die Seele des Hauses, und viele Jahre wurde diese vernachlässigt. Wie wertvoll es ist, wird aber jetzt immer mehr Eigentümern von Gründerzeithäusern bewusst.
Wir leben im Erdgeschoß. Wer nicht gerade zu Hause ist, sondern unterwegs, der ist auf der Straße und bewegt sich daher im Erdgeschoß. Hier laufen Wohnen und Arbeiten zusammen, hier verbinden sich die verschiedenen Ebenen einer Stadt, privat, öffentlich und halböffentlich – das Leben findet ebenerdig statt. Wie wichtig das Erdgeschoß für das Haus und auch für das gesamte Grätzel und das Stadtleben ist, war bereits in der Gründerzeit bekannt. Daher hat man sich in der Wiener Bauordnung von 1859 explizit mit diesem Thema befasst: Der Paragraph 30 lässt in seiner Kürze und Klarheit keine Missverständnisse aufkommen: „Erdgeschoßlagen sollen so gestaltet sein, dass Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen des Bauführers ermöglicht werden, jedoch Wohnflächen nur unter besonderen Bedingungen zulässig sind.“ Punkt.

Für das Leben unerlässlich

Der ebenerdige Raum war für das damalige Leben unerlässlich, denn hier wurde produziert, hier wurde Handel getrieben, gekauft und verkauft. Dank ihrer Konzeption und ihrer unterschiedlichen Grundrisse fand sich für jeden Anspruch der geeignete Raum: vom Handwerksbetrieb über den Gemüsehändler bis hin zum Gasthaus. Die untersten Zonen waren zumeist barrierefrei. Auch wenn das damals kein Thema in diesem Sinne war, ließen sich Waren relativ leicht und problemlos anliefern, was für die damalige Zeit schlichtweg ein Muss war. Und noch etwas Besonderes zeichnete sie aus: Eine wesentliche Facette des Parterres in den Wiener Gründerzeithäusern stellt die große Raumhöhe dar, die eine weitere Nutzungsoffenheit bringt – hier ließ sich faktisch alles unterbringen; Regale konnten bis zur Decke reichen, und Holzkonstruktionen brachten noch ein paar Quadratmeter mehr Fläche.

Aber die Zeiten änderten sich. Die Erdgeschoßzonen wurden vom immer stärker werdenden ruhenden und fließenden PKW-Verkehr in Mitleidenschaft gezogen. Eingekauft wurde nicht mehr nebenan, sondern im Supermarkt. Irgendwann fand das Leben nicht mehr auf der Straße, sondern zu Hause vor dem Fernseher statt. Damit verloren die Erdgeschoßräume ihre Bedeutung und in weiterer Folge ihren Glanz. Richtig degradiert wurden sie, als aus den großzügigen Erdgeschoßzonen letztendlich Garagen entstanden.

Rückkehr der Einmaligkeit

Mittlerweile wird dem Erdgeschoß wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das hat auch damit zu tun, dass der Einfluss des Entrées auf den Gesamteindruck des Hauses letztendlich bis in das Dachgeschoß reicht. Denn mit unattraktiven oder gar verwahrlosten Eingangsbereichen werden sich in solchen Gebäuden keine (teuren) Dachgeschoßwohnungen vermieten lassen.

Zahlreiche Eigentümer von Zinshäusern setzen daher immer wieder Initiativen, diese oft unterschätzten Bereiche ihrer Immobilie zu revitalisieren – und je mehr Eigentümer sich zusammenfinden, desto größer ist die Chance der Veränderung. Wenn die Kleinteiligkeit einzelner, für sich abgeschotteter Erdgeschoßräume in einem einzelnen Haus einem Gesamtkonzept weicht, dann bieten sich mehr Möglichkeiten – nicht nur für die Häuser selbst, sondern für das Erscheinungsbild des gesamten Grätzels.

Der „Kick“ im Grätzl

Urbanität und Leben lassen sich zwar von der Stadtpolitik steuern, doch oftmals ergibt sich erst aus einem neuen und interessanten Konzept ein „Kick“. So waren es unter anderem Gastronomie und Galerien, die ein junges urbanes Publikum ins Freihausviertel auf der Wieden zogen und diese einst unbeliebte Gegend attraktiv machten. Ähnlich war die Situation auch am Brunnenmarkt. Geht man mit offenen Augen durch belebte Straßen, in denen die Erdgeschoßlokale ihr wahres Antlitz zeigen – und damit das, wofür sie tatsächlich einmal gedacht waren, so ist man über die Vielfalt mehr als erstaunt. In immer mehr Straßen entdeckt man wieder die wahre Pracht der ebenerdigen Räume – doch noch gibt es in Wien weiterhin viel zu tun.

Gastronomie, Handel & Co

Wer bei der Belebung als erstes an Gastronomie und Handel denkt, der liegt schon einmal richtig. Allerdings sind lediglich 20 % der Erdgeschoßflächen für Handel und Gastronomie nutzbar. Das hat aber nichts mit ihrer Konstruktion zu tun, sondern vielmehr mit der Kaufkraft der Menschen in der Stadt. In jedem Erdgeschoß Lokale oder Einzelhändler anzusiedeln geht sich eben rein rechnerisch gar nicht aus.

Die Urbanauts.at bringen ein ganz anderes Konzept: Aus ehemaligen Geschäftslokalen machen sie Hotelzimmer für Abenteurer. Die Street Lofts bewahren die Geschichte alter Geschäfte, Werkstätten und Ateliers. Leerstehende Gassenlokale werden zu Suiten umgebaut und als dezentrales Hotel zusammengefasst. „Das ist Stadterleben ohne Umweg durch die Hotellobby“, meinen die Betreiber, denn „auf der Straße zeigt die Stadt ihr wahres Gesicht.“ Wie sich ein langfristiges Zusammenspiel zwischen Erdgeschoß und öffentlichem Raum in der Praxis darstellen könnte, wird sich erst in den kommenden Jahren weisen, aber es tauchen immer mehr neue Ideen auf.

Vielfältige Möglichkeiten

Geschäftslokale sind zum Beispiel auch für Ärzte interessant, da ein Großteil dieser Immobilien barrierefrei ist. Vor allem müss(t)en die Praxen von Ärzten seit dem 1.1.2016 laut Gesetz (Anm. d. Red.: Bei dem am 1.1.2006 erlassene Gesetz gab es eine Übergangsfrist von 10 Jahren.) barrierefrei erreichbar sein. Immer mehr Ärzte erkennen die Vorteile des Parterres und eröffnen hier ihre Ordination. Das Thema Gesundheit könnte überhaupt ein wesentlicher, neuer Aspekt für Erdgeschoßlagen sein. Betrachtet man die weitere Entwicklung und Überalterung der Gesellschaft in Europas Staaten, so stellt sich die Frage der dezentralen Versorgung und Pflege von älteren Menschen in kleinen, barrierefreien Einheiten.

Der ebenerdige Arbeitsplatz

Schon längst hat auch die Kreativszene die Vorteile des ebenerdigen Arbeitsplatzes erkannt, der zudem dank seiner Konzeption den Vorteil der Individualität birgt. Auch hält das produzierende Gewerbe wieder verstärkt Einzug. Neue Technologien werden hier ebenso zum Tragen kommen wie klassische, emissionsfreie Produktionen. Eine Schneiderei hat ebenso ihre Berechtigung wie eine 3D-Druckerei, die mit der neuesten Technologie ausgestattet ist.

Achtung vor der letzten Meile

Auch der Handel braucht Flächen. Für Pop-up-Stores in unterschiedlicher Größe bieten die Erdgeschoßflächen genau die Individualität, die Kunden noch zusätzlich anzieht. Aber auch beim Großhandel wirft man immer begehrlichere Blicke auf die Parterrezonen. Jedoch weniger für den Vertrieb, sondern mehr für die Anlieferung. Durch den steigenden Internethandel nehmen Lagerkapazitäten für den Handel im innerstädtischen Bereich eine immer wichtigere Stellung ein, um die berühmte „last mile“ zum Kunden logistisch zu überbrücken.

Wiederholungsgefahr

Dabei ist allerdings auch Vorsicht geboten, denn sonst erfahren die Erdgeschoßzonen wieder das gleiche Schicksal, das sie schon einmal hatten – nur gibt es dann Lager statt Garagen. Daher wäre ein durchgehendes Grätzelmanagement mehr als sinnvoll, um einen gemeinsamen, ausgewogenen Mix zu schaffen. So wie es bereits vor 150 Jahren die Bauordnung vorsah: „Erdgeschoßlagen sollen so gestaltet sein, dass Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen des Bauführers ermöglicht werden …“

Alles über Zinshäuser in der aktuellen Ausgabe des „Ersten Wiener Zinshaus-Marktbericht“ der OTTO Immobilien Gruppe.

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Immobilien Redaktion
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  • Erschienen am:
    12.10.2017
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