Verzwickte Probleme erfordern evolutionäre Lösungen
„Zwischen Wollen und Können liegen ganz viele Schritte", erklärte Deinhammer zu Beginn ihres Vortrags. Die Professorin, die neben ihrer Lehrtätigkeit auch als Vizepräsidentin des Social Economic Forum Austria tätig ist und das österreichische Leitprojekt „Kreisbau" zur Kreislaufführung von Baumaterialien mit KI-Unterstützung leitet, stellte das Konzept der „Protopia" als zentralen Lösungsansatz vor. Im Gegensatz zur utopischen Zukunftsvision oder der dystopischen Untergangsprophezeiung beschreibt Protopia einen pragmatischen Prozess kontinuierlicher Verbesserung.
Deinhammer identifiziert Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung als „verzwickte Probleme": „Jeder Lösungsversuch verändert das Problem selbst." Diese Erkenntnis führt zur zentralen Botschaft ihres Vortrags: „Wir transformieren unsere Bau- und Immobilienwirtschaft nicht durch eine Revolution, die alles auf einmal löst, sondern durch Evolution mit 100 kleinen Schritten in einem dynamischen Prozess des Werdens."
EU-Regulierungen als Chance statt Bürde
Mit faktenbasierter Darstellung erläuterte Deinhammer die aktuellen EU-Regulierungen und deren Auswirkungen auf den Immobiliensektor. „87% der Immobilien in der EU sind theoretisch taxonomiefähig, aber nur 15% erreichen tatsächlich EU-Taxonomie-Konformität – das ist eine 72% Lücke", so die Expertin.
Besonders relevant waren ihre Ausführungen zum neuen Klimafaktor der Europäischen Zentralbank, der ab 2026 eingeführt werden soll: „Ein Bürogebäude mit einem Energieausweis der Klasse F oder G wird als Sicherheit um 15 bis 25% weniger wert gerechnet." Dies bedeutet konkret höhere Finanzierungskosten für nicht-nachhaltige Immobilien, während EU-Taxonomie-konforme Neubauten bevorzugte Finanzierungsbedingungen erhalten werden.
„Regulatorik nicht als Bürde, sondern als Chance zu sehen" – mit dieser Aufforderung plädierte Deinhammer für einen Perspektivwechsel in der Branche. „Anstatt überrascht zu sein, dass wir plötzlich Ziele erreichen müssen, nur weil wir die letzten fünf Jahre nicht ernst genommen haben."
Langfristiges Denken als ökonomische Vernunft
Die Fachfrau präsentierte konkrete Zahlen zur Wirtschaftlichkeit langfristigen Denkens: „Jeder investierte Euro in aufgeschobene Sanierungen verursacht 4€ zukünftigen Kapitalbedarf." Deinhammer erläutert, dass sich Schäden mit 7% jährlich im Zinseszins verstärken und in Extremfällen zu Kosten-Multiplikatoren von zehn bis zu 15 führen können.
„Anfängliche Baukosten repräsentieren über den Lebenszyklus nur 2% der Gesamtkosten", betonte Deinhammer und untermauerte damit die wirtschaftliche Logik einer langfristigen Betrachtungsweise. „Design for Disassembly ist kein Luxus, sondern ökonomische Vernunft."
Fünf Handlungsfelder für zukunftsorientierte Unternehmen
Zum Abschluss ihres Vortrags formulierte Deinhammer fünf konkrete Handlungsempfehlungen:
- Akzeptanz der Komplexität: „Verzwickte Probleme brauchen interaktive, adaptive Lösungen. Wir müssen mutig sein."
- Institutionalisierung langfristigen Denkens: „Bei einer durchschnittlichen Gebäudelebensdauer von 50 bis 100 Jahren ist kurzfristige Optimierung Zukunftsraub und ökonomischer Unsinn."
- Erweiterung der Optionen: „Jede monolithische Verbindung, jeder nicht trennbare Verbundstoff reduziert künftige Handlungsmöglichkeiten."
- Nutzung digitaler Möglichkeiten: „Digitalisierung ist die Grundlage für Klimaneutralität und Prosperität."
- Positive Betrachtung der Regulatorik: „Sehen wir Regulatorik nicht als Hürde, sondern als Scheinwerferlicht der Möglichkeiten."
Österreichs Position als Innovationsstandort
Mit Bezug auf Fakten verwies Deinhammer auf Österreichs Innovationskraft: „Im EU Innovation Index sind wir auf Platz 3. Wir gehören zu den grünen Innovationsleadern Europas." Sie hob hervor, dass die Steiermark den weltweit ersten Green Tech Cluster geschaffen hat und in Linz mit voestalpine Future die weltweit größte Pilotanlage für Wasserstoff steht.
Im anschließenden Interview erläuterte Deinhammer ihre doppelte Motivation: „Privat bin ich Naturenthusiastin. Ich möchte diesen Planeten nicht schlechter verlassen, als er war, als ich ihn betreten habe. Aber beruflich, in meiner professionellen Rolle, schlägt mein Herz als Ingenieurin. Ich will wissen, ob dieser Systemwandel tatsächlich geht. Wie weit können wir die Grenzen des Machbaren verschieben?"