„Sühnekirche“, „Heilige Familie“ oder einfach nur „Sagrada Familía“– das sind die vermutlich bekanntesten Bezeichnungen der „Temple Expiatori de la Sagrada Familía“ in Barcelona. Jährlich zieht es zahlreiche Touristen zu der Kathedrale, deren Altar am letztjährigen 7. November von Papst Benedikt XVI. geweiht wurde. Obwohl dies ein wichtiges Etappenziel war, ist die Basilika noch lange nicht fertiggebaut. Bis jetzt sind zwar die zwei beeindruckenden Zierfassaden im Osten und im Westen sowie einige Türme vollendet worden, aber der Großteil befindet sich noch in Planung beziehungsweise Bau, obwohl die Grundsteinlegung schon am 19. März 1882 erfolgte.
Das UNESCO-geschützte Wahrzeichen ist auch gleichzeitig ein Aushängeschild des Baukünstlers Antoni Gaudí, wiewohl die ursprüngliche Idee nicht von ihm stammte, sondern von José María Bocabella y Verdaguer, einem ortsansässigen Besitzer einer religiösen Buchhandlung. Sein Ziel war es, eine Kirche der heiligen Familie zu widmen und sie rein aus Spendengeldern zu errichten, wie er es auf einer Italienreise öfters gesehen hatte. Ursprünglich sollte die Basilika näher zum Stadtkern entstehen, doch musste aufgrund der bereits damals schon hohen Grundstückspreise in den heutigen Stadtteil Eixample ausgewichen werden, der damals noch völlig unbebaut war. Bereits ein Jahr nach Baubeginn übernahm Gaudí das Vorhaben, da es zu Zwistigkeiten zwischen dem Initiator und Gaudís Vorgänger Francisco del Villar kam. Gaudí entwickelte die Konzeption im neukatalanischen Stil (einer Variante der Neugotik) mit „Modernisme“-Einfluss weiter, wodurch sich mehrere Architekturstile vereinigten. Er integrierte eine fast vergessene Technik, indem er ein Tragwerk aus Schnüren machte und das gesamte Bauwerk kopfüber aufhängte, um einen einzigartigen Effekt zu bewirken. Bei ihm stand vor allem die Natur im Fokus, die er als Vorlage für die Basilika heranzog. Das kann nun seit dem Jahr 2010 im Inneren bestaunt werden, wo das hohe Gewölbe mit vielen steinernen Säulen und zahllosen Verzweigungen an das Blätterdach eines Baumes erinnert.
Gaudí selbst arbeitete rund 43 Jahre an der Kirche, die letzten 15 Jahre seines Lebens sogar ausschließlich. Auf die Unmöglichkeit einer baldigen Fertigstellung angesprochen, antwortete Gaudí: „Mein Kunde hat keine Eile.“ Damit spielte er sowohl auf die Baudirektion als auch auf Gott an. Nachdem schon im Jahr 1891 auf der Baustelle eine erste Messe unter freiem Himmel abgehalten worden war, konnten 1893 die Apsis und die Krypta vollendet werden. Gaudí fing mit der Arbeit an der östlichen der drei Fassaden, der „Geburtsfassade“, an. Vor seinem Tod 1926 konnte jedoch nur der eine Turm dieser Fassade vollendet werden. Gaudí starb im Jahre 1926 bei einem Unfall direkt vor der Sagrada Familía. Danach wurden die Bauarbeiten immer wieder unterbrochen, doch 1935 konnten die Arbeiten an der „Geburtsfassade“ endgültig abgeschlossen werden. Zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs gingen die ursprünglichen Baupläne verloren und das einzige Gipsmodell wurde schwer beschädigt. Die späteren Architekten Francesc Quintana, Isidre Puig Boada und Lluís Gari führten den Bau ab etwa 1950 dennoch fort und versuchten sich so gut wie möglich an Gaudís auch mündlich überlieferte Ideen zu halten. 1976 wurden die vier Aposteltürme über der „Passionsfassade“ vollendet. Mittels Computerberechnung hat man herausgefunden, dass die Verwendung weithin industriell vorgefertigter Formen nicht möglich ist; vielmehr muss nahezu jeder Stein speziell angepasst werden. Der Weiterbau bleibt daher schwierig und teuer und finanziert sich weiterhin aus Spenden und Zuwendungen sowie mittlerweile auch durch Eintrittsgelder der „ewigen“ Baustelle. Diese gehört zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Barcelonas und lockt seit vielen Jahrzehnten zahlreiche Touristen an. Fraglich ist, ob die römisch-katholische Basilika tatsächlich 2026 fertiggestellt sein wird. Denn schließlich wird schon seit über 128 Jahren daran gebaut und auch das Hauptelement– der Jesus Christus gewidmete Hauptturm– besteht bisher nur auf dem Papier. Aber schlussendlich trägt die „Sagrada Familía“ nicht umsonst den Titel der wohl berühmtesten Baustelle der Welt.