Stellen Sie sich einmal folgendes Szenario vor: Sie und Ihre Partner entscheiden heute in einem Meeting, ob Sie in das gerade fertiggestellte gemischte Immobilienobjekt in Warschau investieren werden oder ob Sie sich doch lieber für das interessante neue Büroprojekt in Bukarest entscheiden sollen– aber auch das Zagreber Objekt in zentraler Lage klingt attraktiv. Oder wäre doch das Fachmarktzentrum in Prag besser? Vor sich haben Sie aktuelle Grundbuchsauszüge liegen, die jedes europäische Registergericht seit dem Vorjahr auf Wunsch auch in englischer Sprache ausstellt. Ein Blick auf die einheitlich gegliederten Auszüge zeigt Ihnen den exakten Stand der Hypotheken, Dienstbarkeiten, und der anderen grundbücherlichen Lasten, und Sie wissen auch, dass Sie aufgrund der ebenfalls im Vorjahr in Kraft getretenen Richtlinie zur Harmonisierung der europäischen Grundbücher (ohne Ihre Berater lange Titelketten prüfen lassen zu müssen) auf den aktuellen Stand der Grundbücher vertrauen können. Sie haben auch alle abgeschlossenen Mietverträge vor sich; Ihr (wohlgemerkt) österreichischer Rechtsberater diskutiert mit Ihnen anhand der ebenfalls neuen Richtlinie des Europäischen Rats über ein einheitliches europäisches Mietrecht, ob die in den jeweiligen Bestandverträgen der Objekte getroffenen Regelungen zur Erhaltung, Instandsetzung, Befristung und zu den Kündigungsgründen der jeweiligen polnischen, rumänischen, tschechischen und kroatischen Verträge zulässig sind. Noch im Meeting und ohne aufwendige rechtliche Prüfvorgänge bekommen Sie und Ihre Partner so ein gutes Bild der zivilrechtlichen Qualität der in den verschiedenen europäischen Ländern befindlichen Objekte, die Sie in Ihre engste Investitionswahl gezogen haben.
Verworrene Rechtslage
Realistisch? Überhaupt nicht. Utopisch? Zunehmend. Die Europäische Union hat weder für das Grundbuchsrecht noch für das Sachenrecht noch auch im Zivilrecht Regelungskompetenz, und entsprechend unterschiedlich und verworren stellt sich die Rechtslage in den hier angesprochenen Materien in den 28 nationalen Rechten Europas dar– ganz zu schweigen einmal von der Vielzahl der Nicht-EU-Rechtsordnungen unserer CEE/SEE-Nachbarregion. Auch eine lediglich mittelfristige Änderung scheint– nicht zuletzt aufgrund populistisch geschürter Europa-Skepsis– unwahrscheinlich. Aber nicht nur ist keine Konvergenz der einzelnen Rechtsordnungen festzustellen– tatsächlich entwickeln sich die einzelnen nationalen Rechte in vielen Punkten aufgrund einer Vielzahl partikularrechtlicher Entwicklungen in Summe eher weiter auseinander, anstatt sich aufeinander zuzubewegen.
Hausgebackene Rechtssysteme
Insbesondere der zentral- und osteuropäische Raum stellt eine der rechtlich am stärksten fragmentalisierten Gegenden des gesamten Planeten dar– was einerseits durch den Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschafts- und Rechtssysteme Osteuropas in jüngerer Vergangenheit bedingt ist und andererseits mit dem Faktum zu tun hat, dass junge und neue nationalstaatliche Gebilde sich leider häufig durch möglichst hausgebackene Rechtssysteme zu differenzieren suchen, wofür etwa die früheren jugoslawischen Teilrepubliken ein plakatives Beispiel darstellen. Dieser rechtspolitische Unsinn wird zuweilen als Ausdruck kultureller Identitäten missverstanden– er ist aber nichts anderes als ein Zeichen dafür, dass die wirtschaftlichen Aspekte der Gesetzgebung in modernen Volkswirtschaften entweder nicht verstanden oder negiert werden, und manchmal ist es auch lediglich der Ausdruck nationalpopulistischer Politik, wie etwa gegenwärtig in Ungarn.
Wirtschaftliche Bremsklötze
Rechtlicher Partikularismus und zersplitterte Rechtssysteme sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Bremsklötze. Starke Wirtschaftsräume waren dagegen historisch seit jeher auch durch einheitliche Rechtssysteme gekennzeichnet. Anders gesagt: Einheitliche Rechtssysteme sind wirtschaftliche Erfolgsfaktoren. So war das schon im Römischen Reich, dessen Blüte nicht zuletzt durch ein damals revolutionäres, stark einheitliches Rechtswesen über alle Provinzen hinweg gekennzeichnet war, während der Untergang durch die Entstehung von Vulgar- und Partikularrechten geprägt war. So verhält es sich auch heute noch mit großen Wirtschaftsräumen wie dem der USA, in dem etwa der Uniform Commercial Code in allen 50 Bundesstaaten seit den frühen 50er-Jahren Klarheit über handelsrechtliche Regeln geschaffen hat und dadurch eine weiteres Basis für eine sehr erfolgreiche Volkswirtschaft darstellt.
Positive Ansätze
Immobilien sind die weltweit bedeutendste Asset-Klasse. In der Regel stellen sie daher, wie volkswirtschaftliche Daten belegen, auch eine der zentralen Vermögenskategorien für ausländische Direktinvestitionen dar. Insofern war es ein wichtiger Schritt gewesen, im Zuge des Binnenmarktprogrammes der frühen 90er-Jahre Maßnahmen zu setzen, um die (EU-)Ausländerdiskriminierung in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft beim Immobilienerwerb zu beseitigen. Es ist auch sicher positiv zu bewerten, dass die Union– wie heuer mit der Erlassung der Richtlinie 2014/17 über Wohnimmobilienkredite für Verbraucher– wenigstens punktuell und gestützt auf die Zuständigkeiten, die sie hat (Binnenmarkt, Verbraucherschutz), Schritte zu einer gemeinschaftsweiten Harmonisierung in Dingen setzt, welche die Liegenschaften zumindest mittelbar betreffen– ausreichend ist dies jedoch keinesfalls.
Rechtssicherheit und Transparenz
Was sollte also idealerweise geschehen? Es wäre sinnvoll, das Binnenmarktprogramm inhaltlich zu vertiefen und zu erweitern, um (auf der Grundlage erweiterter Kompetenzen der Union) eine inhaltliche Vereinheitlichung wirtschaftlich zentraler Rechtsnormen wie der immobilienrechtlichen zu erreichen. Dies würde nicht nur gemeinschaftsweit die Rechtssicherheit erhöhen, Transparenz herstellen und rechtsgeschäftliche Vorgänge erleichtern, sondern wohl auch einen neuen Stimulus für Investitionen in die Gesamtregion darstellen. Ein weiterer Effekt wäre wohl der, dass andere europäische Rechtssysteme (Nicht-EU) unter Zugzwang kämen, ihre Rechtsordnungen an die Standards des Gemeinschaftsrechts anzupassen, um nicht im Wettbewerb der Standorte zurückzubleiben.
Ach Europa– vielleicht haben wir ja irgendwann wieder einmal eine Generation von Politikern, die über den Tellerrand des täglichen Mikro-Krisenmanagements hinaus aktiv die Zukunft für unseren Erdteil gestalten will? Die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums wäre ein phänomenaler Dienst sowohl an den Bürgern wie auch an den Wirtschaftstreibenden Europas.