Stadtflucht: Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die urbanen Immobilienmärkte

Ein neues Leben beginnen. Die Gesellschaft definiert sich neu, und das verändert die städtischen Strukturen. Zum ersten Mal seit 1994 zeigt sich in Deutschland der Trend, die Städte zu verlassen. Die Bevölkerung wandert ab.
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Seltsam mutete es an, wenn man vor zehn Jahren gegen die Urbanisierung schrieb. Also nicht direkt dagegen, aber doch einer anderen Meinung war. Nämlich, dass sich Stadt und Land irgendwann in der Mitte treffen werden und nicht das eine das andere übernehmen wird, wie es prognostiziert wurde: So sollten laut den Vereinten Nationen im Jahr 2050 rund 75 % der Menschen in Städten leben – in Deutschland sogar 90 % – und der Rest irgendwo auf dem Erdenrund verteilt ein seltsames Leben fristen.

Auszug aus der Stadt

Es zeigt sich aber, dass diese Entwicklung hin zu den Städten sich immer mehr zugunsten des Landes verschiebt. Die ersten Ansätze sind bereits gemacht – zumindest in Europa. Eine aktuelle Umfrage der Berlin Hyp AG ermittelt einen starken Trend zum Wohnen außerhalb der Städte. Unter der Voraussetzung, dass der Trend zum mobilen Arbeiten anhält, sehen 73 % der befragten Experten einen zunehmenden oder stark zunehmenden Zuzug ins Umland. 25 % der Befragten schätzen den Zuzug ins Umland als gleichbleibend ein. Gefragt nach der bevorzugten Wohnlage antworteten 43,1 % mit der Präferenz „ländlicher Raum“, 23,8 % bevorzugen den Stadtrand, der „Speckgürtel“ ist für 19,1 % der Befragten die bevorzugte Wohnlage, die Innenstadt nur für 11,4 %. Wohnen und Arbeiten vermischen sich immer mehr, und der Wohn- beziehungsweise Arbeitsplatz bekommt damit einen ganz neuen Stellenwert.

Großstädte verlieren durch Umzüge deutlich an Bevölkerung

Aktuell zeigt sich in Deutschland – laut Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) –, dass die Großstädte durch Umzüge so deutlich an Bevölkerung verlieren wie zuletzt 1994. Vor allem 30- bis 49-Jährige sowie Minderjährige ziehen aus den Großstädten weg. Das deutet darauf hin, dass sich die Suburbanisierung von Familien, wie sie schon vor der Covid-19-Pandemie zu beobachten war, 2021 verstärkt hat. Als mögliche Gründe werden veränderte Wohnpräferenzen, Wohnungsknappheit und hohe Wohnungspreise in den Großstädten genannt. Vor allem das städtische Umland, aber auch kleinere Städte und sogar ländliche Gebiete scheinen von dieser Entwicklung zu profitieren: Sie alle gewinnen an Bevölkerung durch Zuzug. Auch der Wegzug jüngerer Menschen aus diesen Regionen in die Großstädte war geringer als in den Jahren vor der Pandemie.

Soziale Strukturen halten die Stadt zusammen

Soziologen sind längst überzeugt, dass für die Stadt, unabhängig von all den damit verbundenen Themen wie Wachstum, Technologie oder Verkehrssysteme, in Zukunft ein Faktor entscheidend sein wird: die soziale Struktur innerhalb der Stadt, innerhalb der einzelnen Stadtteile. Städte werden nur „funktionieren“, wenn die Menschen dort auch leben wollen. Wie groß eine Stadt überhaupt werden kann, hängt nämlich weniger von ihrer „Kapazität“ oder „Belastungsgrenze“ ab als von den Menschen, die dortbleiben wollen.

Die Sehnsucht vieler Städter nach naturnahen, beschaulichen, stressfreien Lebensräumen fördert aber auch den Trend hin zu kleinräumigen, dörflichen Strukturen innerhalb von Städten. Stadtentwickler, vor allem aber auch die Bürger selbst erschaffen hybride Orte, die beispielsweise in Urban Gardening, in gemeinschaftlich genutzten Grünflächen und Nachbarschaftsinitiativen zum Ausdruck kommen. Lokale Communitys schaffen sich so Inseln gemeinsamer Identität und ländlicher Idylle in ihrer Stadt.

Nachahmung der Städte?

Im Gegenzug ist es kontraproduktiv, von den Dörfern mehr „Urbanität“ zu fordern, wenn auf diese Weise kleine Städte entstehen sollen, die nie das aufweisen werden können, was die urbanen Zentren bieten. Schlimmer noch, sie drohen auf diese Weise ihre ländlichen Merkmale zu verlieren. Eine Öffnung für Neues liegt weniger im Nachahmen der Städte. Es soll eher bedeuten, die Besonderheit des Ländlichen herauszustellen und zu fördern: mehr Ruhe, mehr Sicherheit, mehr ökologische und soziale Nachhaltigkeit und natürlich verlässliche nachbarschaftliche Hilfe.

Grundsätzlich kann man daher davon ausgehen, dass sich „Land“ nicht unbedingt in „Stadt“ verwandeln wird, weil das – wie schon erwähnt – nicht passt. Dafür ist aber zu erwarten, dass sich in den Städten wieder neue „ländliche“ Strukturen finden werden, die auch im Städtebau zum Ausdruck kommen werden.

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Geschrieben von:

Walter Senk

Walter Senk ist Chefredakteur der Immobilien-Redaktion, die er 2010 gründete. Er ist seit über 24 Jahren Journalist mit dem Fachgebiet „Immobilien“. Er konzipiert und betreut Newsletter und Magazine für Medien und Unternehmen, moderiert Veranstaltungen und leitet Podiumsdiskussionen. Sein Motto: Es gibt zum Optimismus keine vernünftige Alternative.