Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wirkt ein bisschen wie eine positive Utopie, fast wie ein Gedankenexperiment. Wie praxisrelevant ist die Idee aus Ihrer Sicht?
Thomas Beyerle: Wirklich praxisrelevant ist das Konzept nur, wenn ich auf der grüne Wiese eine neue Stadt baue. Punkt. In den USA ist das anders, aber in Europa können wir das Konzept nie zur Gänze umsetzen, sondern immer nur adaptieren. Das ist die rationale Antwort. Es gibt aber auch einen anderen Zugang. Die Umsetzung des Konzepts passiert ja bereits, auch wenn wir es nicht immer wahrnehmen. In urbanen Regionen schränkt sich der Radius immer weiter ein. Unser räumliches Verhalten in der Stadtstruktur hat sich in den letzten 20 Jahren immer mehr weg vom Auto, hin zum Fahrrad-, Fuß- und öffentlichen Verkehr gewandelt. Das heißt, das Konzept wird auf existierende Strukturen gestülpt, man nimmt sich Anleihen an Barcelona mit seinen Superblocks und verbannt den ruhenden Verkehr aus dem Stadtbild, weil der Platz einfach zu wertvoll ist. Wenn man das alles schafft, ist man gar nicht mehr so weit von der Idee entfernt.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Pfeiler des Konzepts?
Das wichtigste ist das fußläufige Angebot. Wenn ich in einer reinen Wohnsiedlung lebe, bringt mir der schönste Grünraum wenig, wenn ich für meine Einkäufe auf das Auto angewiesen bin. Die autogerechte Stadt war die Planungsdoktrin der Nachkriegszeit. Davon rückt man seit 15, 20 Jahren, spätestens seit der Finanzkrise immer mehr ab. Gerade die junge Generation in der Stadt hat kaum noch ein Auto, oft nicht einmal einen Führerschein. Wir stehen am Vorabend des wahrscheinlich größten Stadtumbaus nach dem Krieg. Etwas theatralisch formuliert, haben wir 30 Jahre alte Bürogebäude, die keiner mehr braucht. Wir brauchen aber viel mehr Wohnraum. Große Shoppingcenter will man auch nicht mehr, Einzelhandel aber schon. Es geht darum, Städte grüner, sozialer und gerechter zu machen. Die Seestadt Aspern ist ein Versuch, genau das zu machen. Aber das ist ein Produkt von vor 20 Jahren. Eine Flächenversiegelung in diesem Ausmaß wäre heute gar nicht mehr möglich.
Wie muss der erste Schritt aussehen?
Ganz wesentlich ist der öffentliche Verkehr. Wie in der Seestadt, da war erst die U-Bahn und erst dann kamen die Wohngebäude. Halb Europa ist vor der Pandemie in die Seestadt gepilgert, um sich die Umsetzung anzusehen. Das wurde idealtypisch umgesetzt. Man sieht aber an der Seestadt auch, wie schnell sich Bedürfnisse und Anforderungen ändern können. Seit Corona pendeln viel weniger Leute ins Büro, plötzlich braucht man in den Wohnungen Platz für Homeoffice, Coworking-Spaces in unmittelbarer Nähe zum Wohnort werden stark nachgefragt. Die Wahrnehmung, wie wir wohnen, leben und arbeiten wollen, hat sich komplett geändert. Es ist eine unglaubliche Herausforderung für die Stadtplanung, zukünftige Entwicklungen vorwegzunehmen oder zu einem Teil mitzugestalten. Aktuell würde man am liebsten alles, was die Marktforschung sagt, reinpacken. Das wird aber vor allem eines: unbezahlbar. Generell muss man sagen: Eine 15-Minuten-Stadt muss man sich leisten können. Denn das bedeutet immer, in die Höhe zu bauen, und das ist teuer.
Am Ende des Tages bleibt die Erkenntnis, dass wir das Konzept nur punktuell umsetzen können. Und im Moment ist das Hauptthema sicher, die Autos aus der Stadt zu bekommen. Aber auch dafür muss man Lösungen anbieten, wie Carsharing oder Quartiersgaragen. In Deutschland kommt dann wie das Amen im Gebet der Einwand, wie denn die betagte Mutter oder Großmutter dann ihren Sprudelkasten heimtransportieren soll. Aber auch dafür gibt es Lösungen, etwa in Form von Lieferdiensten.
Ist das 15-Minuten-Konzept abseits urbaner Zentren völlig obsolet oder gibt es auch hier Möglichkeiten? Wir reden ja viel über Zersiedelung und die Verödung der Ortskerne.
Solange der öffentliche Verkehr so ist, wie er ist, hat das Konzept im ländlichen Raum keine Chance. Solange der öffentliche Verkehr am Stadtrand mehr oder weniger endet, ist man aufs Auto angewiesen. Ein Kompromiss sind die Park-and-ride-Anlagen. Aber im ländlichen Raum spielt das Konzept so gut wie keine Rolle.
Die schon erwähnten Superblocks in Barcelona werden oft als gelungenes Beispiel für das Konzept gesehen. Gibt es noch andere erfolgreiche Praxisbeispiele?
Alle Stadtstrukturen, die reißbrettmäßig aufgebaut sind, haben gute Chancen. Nehmen Sie Manhattan, Times Square, da ist alles autofrei. Auch Valencia ist so eine Art kleiner Bruder von Barcelona. Das hängt zusammen mit der Baudichte. In Spanien wurde aufgrund der klimatischen Bedingungen immer schon enger gebaut, um Schatten zu generieren. Auch in Kopenhagen gibt es gute Ansätze und Paris will mit dem Grand-Paris-Plan bis 2050 das 15-Minuten-Konzept in den einzelnen Stadtteilen umsetzen. Aber auch hier möchte ich wieder festhalten. Eine 15-Minuten-Stadt bedeutet immer auch Gentrifizierung, die Sozialstruktur ändert sich und eines wird es sicher nicht: billiger.