Die Menschheit tritt ein in ein „Jahrtausend der Städte“, wie es der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, um 2000 formuliert hat. Aber tut sie das wirklich? Als Kofi Annan das sagte, lebte rund die Hälfte der Menschen in Städten, und Schätzungen gingen davon aus, dass es 2050 mehr als 75 Prozent sein werden (für Deutschland gibt es Schätzungen, dass zu diesem Zeitpunkt 90 Prozent der Bevölkerung im urbanen Bereich leben werden).
Sind lineare Tendenzen falsch?
Für diese Prognosen wurden lineare Tendenzen als Basis genommen, aber bei einer so massiven Veränderung käme es zu einer eindeutigen Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Stadt und Land. Wie sich über die Jahrhunderte herausgestellt hat, werden sich Verschiebungen aber immer einpendeln. Mittlerweile gehen sogar Soziologen und Demografen davon aus, dass sich die jetzige Entwicklung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht linear fortsetzen wird: Der Trend zur Urbanisierung wird irgendwann ein vernünftiges Maß erreichen und eher wieder zurückgehen. Dies wird auch definitiv mit dem technologischen Fortschritt zu tun haben.
50:50 in Österreich
Hand aufs Herz: Glauben Sie wirklich, dass 75 Prozent der Menschheit in Städten leben und sich die restlichen 25 Prozent irgendwo auf dem Planeten verteilen? Allein der Gedanke daran lässt einen schaudern. Also zumindest die Österreicherinnen und Österreicher. Laut einer aktuellen Umfrage können sich 2019 rund 47 Prozent ein Leben auf dem Land vorstellen. 25 Prozent zieht es in die Bundeshauptstadt Wien, 15 Prozent in eine Landeshauptstadt, und 13 Prozent wollen in einer Bezirkshauptstadt leben. Vielleicht ist Österreich anders, aber diese Umfrage zeigt eher, dass sich in den vergangenen Jahren der Wunsch, in der Stadt zu leben, mit jenem nach einem ländlichen Wohnort die Waage hielt.
Eigenheiten von Stadt und Land
Stadt und Land behalten zwar ihre jeweiligen Eigenheiten, aber das Ländliche könnte einige Vorteile der Stadt bieten, während die Städte Ideen aus dem ländlichen Raum aufgreifen könnten. In beide Richtungen wird derzeit stark gearbeitet.
Städte werden definitiv nicht, wie in düsteren SF-Filmen prognostiziert, dunkle, ewig verregnete, verkehrsüberlastete und schmutzstarrende Moloche sein. Zu sehr wird die Entwicklung zu lebenswerten Städten vorangetrieben. Das Fahrrad wandelt sich vom Freizeitgerät zum Verkehrsmittel erster Wahl, vor allem in den Städten. Von dem neuen Trend der Elektroscooter – die europäische Städte derzeit im Sturm erobern – ganz zu schweigen. Diese Alternativen sind nicht nur ökologisch, kostengünstig und gesund, sondern in Innenstädten mittlerweile auch oft die schnellere Alternative zum Auto oder zu den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Die Sehnsucht der Städte nach dem Land
Die Sehnsucht vieler Städter nach naturnahen, beschaulichen, stressfreien Lebensräumen fördert den Trend hin zu kleinräumigen, dörflichen Strukturen innerhalb von Städten. Stadtentwickler, vor allem aber auch die Bürger selbst erschaffen hybride Orte, die ihren Ausdruck beispielsweise im Urban Gardening, in gemeinschaftlich genutzten Grünflächen und Nachbarschaftsinitiativen finden. Lokale Communitys schaffen sich so Inseln gemeinsamer Identität und ländlicher Idylle in ihrer Stadt. Auch in den weltweiten Megacitys gibt es immer mehr erfolgreiche Versuche, sie in kleinteiligen Strukturen besser und leichter zu verwalten.
Was bei uns „Urban Gardening“ ist, heißt in den USA „Food Forest“. Laut Sustainable America gibt es inzwischen mehr als 70 öffentliche Nahrungsmittelwälder, die das Land bedecken. Aktuell entsteht in Atlanta der größte Food Forest des Landes. Auf einem ungenutzten Grundstück, auf dem sich ein 7,1 Hektar großes Waldgebiet befindet, soll ein „Nahrungsmittelwald“ die umliegende Bevölkerung, die sonst kaum Zugang zu frischem Obst und Gemüse hat, dauerhaft versorgen.
Der Wunsch von der Stadt auf dem Land
Parallel zur fortschreitenden Urbanisierung erleben Dörfer und ländliche Regionen eine Renaissance. Lokale Visionäre, transitorische Architekturen, Offenheit, Storytelling und Selbstbewusstsein können ganze Regionen zur progressiven Provinz machen. Sie bringen ein urbanes Mindset in den ländlichen Raum. Ausschlaggebend für die Entwicklung sind die Technik und neue Mobilitätsformen. Gerade die Technik ist es, die der Urbanisierung eine Absage erteilt. Dank der Fortschritte in der IT beginnen bereits die Arbeitsplätze aus den Städten an den Rand beziehungsweise in das Dorf zu wandern. Schon heute ziehen in Industrienationen viele Menschen (siehe die Umfrage in Österreich) ein ländliches Umfeld der Stadt vor, wenn sie nicht mehr täglich in die Arbeit pendeln müssen. Neue Mobilitätskonzepte werden sicherlich eine große Rolle bei der weiteren Entwicklung der ländlichen Strukturen spielen – insofern dürfen die nächsten Jahre mit Spannung erwartet werden.
Arbeitsplätze als zentraler Faktor
Aber auch die Arbeitsplätze verlagern sich. In den USA haben sich zwar in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Stadtzentrum konzentriert – im Moment verschiebt sich das aber aufgrund der Millennials auf den Bereich um die Zentren herum. Anders als die Medien es uns glauben machen wollen, ist das Jobangebot nicht in den Städten, sondern in einem Bereich von fünf bis 15 Kilometer außerhalb der City am größten – hier bilden nur San Francisco, Chicago und New York eine Ausnahme.
Von den Dörfern mehr „Urbanität“ zu fordern ist kontraproduktiv, wenn auf diese Weise kleine Städte entstehen sollen, die nie das aufweisen werden können – und sollen –, was die urbanen Zentren bieten. Schlimmer, sie drohen damit ihre ländlichen Merkmale zu verlieren. Eine Öffnung für Neues liegt weniger im Nachahmen der Städte. Es soll eher bedeuten, die Besonderheit des Ländlichen herauszustellen und zu fördern: mehr Ruhe, mehr Sicherheit, mehr ökologische und soziale Nachhaltigkeit und natürlich verlässliche nachbarschaftliche Hilfe.
Der Mensch verändert sich
Neben allen Aspekten, die hier aufgeführt wurden, spielt wohl einer die größte Rolle: die Entwicklung und die Veränderung der Menschen an sich. Das Thema Umwelt wird in allen seinen verschiedenen Ausprägungen immer wichtiger, und dies ist nicht zuletzt auf die Veränderungen unserer Denkstrukturen zurückzuführen. Und daher ist das „Jahrtausend der Städte“ eben doch nicht so fix, denn die Menschheit entwickelt sich weiter. Wie heißt es doch: „Eine Stadt funktioniert nur dann, wenn die Menschen auch darin leben wollen.“ Und dieses „Lebenwollen“ ist immer eine Frage der Zumutbarkeit der Lebensbedingungen. Letztendlich wird diese Entwicklung nicht nur die Städte in den Industrienationen erfassen, sondern auf der ganzen Welt. Damit sollte langfristig eine Ausgewogenheit zwischen Stadt und Land sichergestellt werden.
Anders wird es nicht funktionieren.