Geduckte Altstadtgassen, umsäumt von Einfamilienhäusern, die sich den Hang hochziehen, Plattenbauten als äußerster Ortsrand an der Hügelkrone, eingerahmt von den dunklen Nadelbäumen des Thüringer Walds: Aus der Vogelperspektive offenbart sich Suhl als pittoreske Stadt. Dass der einstige Industriestandort seit der Wende ein Drittel seiner Einwohner verloren hat, dutzende Häuser abgerissen und Gewerbehallen rückgebaut wurden, sieht man nicht.
Von 55.000 auf 36.000 Einwohner
Dabei macht die etwa 45 Fahrminuten südwestlich von Erfurt liegende Stadt damit regelmäßig Schlagzeilen. Lag die Bevölkerungszahl bis zur Wende noch bei etwa 55.000, ist sie in der Zwischenzeit auf etwa 36.000 gesunken. Die Bevölkerung ist noch dazu stark gealtert – die jungen, lernbereiten und lebenshungrigen Menschen waren die Ersten, die Suhl verlassen haben. Damit einher gingen leere Plattenbauten, die wie Geisterblocks in der Gegend stehen, von Unkraut überwucherte Fabrikgelände und verblichene Schaufenster in der Fußgängerzone. Es war ein sich selbst verstärkender Effekt: Ein verfallendes Stadtbild motiviert Wegzugswillige schwerlich, an der Heimat festzuhalten.
Durchbrechen des Teufelskreises
Ralf Heymel gehörte zu denen, die sich früh an ein Durchbrechen dieses Teufelskreises wagten. In den Jahren, als die Jungen in Scharen abwanderten, tüftelte der Leiter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GeWo gemeinsam mit Kollegen, Planern der Stadtverwaltung und Experten an einem möglichst unaufgeregten und sinnvollen Rückbaukonzept. Die GeWo ist eins von zwei großen Wohnungsunternehmen der Stadt. „Wir haben immer gesagt: Was hier passiert, ist keine Katastrophe, sondern eine Zurückentwicklung“, sagt Ralf Heymel. Er verweist darauf, dass die Stadt bis zur Wende auf mehr als 55.000 Einwohner angeschwollen war, die in der DDR in Kombinaten und Verwaltung arbeiten sollten. Die Neubewohner sollten in schnell errichteten Plattenbauten im Gebiet Suhl-Nord wohnen: Block an Block, so weit das Auge reicht.
Überstürzte Flucht
Genau diese Neubürger waren häufig die Ersten, die die Stadt in der Nachwendezeit verließen – außer dem Arbeitsplatz hatten sie keinerlei Bindung an den Thüringer Wald. Die ersten Blocks in Suhl-Nord fielen brach und boten sich zum Rückbau an. Ralf Heymel kam das entgegen. „Wenn die Menschen am Rand in einer Plattenbausiedlung leben, haben sie nie die Verwurzelung, wie wenn sie in der Innenstadt wohnen“, sagt er. Von außen nach innen, entlang der Versorgungsachsen, begannen die GeWo und die Arbeiterwohnungsgenossenschaft (AWG) „Rennsteig“ mit dem Abriss von Häusern. Mehr als zwei Drittel der knapp 5.000 Wohnungen in Suhl-Nord sind seitdem verschwunden. Bis 2035 soll der Stadtteil komplett in ein Gewerbegebiet umgewandelt werden.
Viel abreißen, viel modernisieren
„Das Schwierigste an der Situation war, die Maßnahmen zu vermitteln“, sagt Ralf Heymel. In zahlreichen Gesprächen und Versammlungen versuchte er, den Betroffenen zu erklären: Das Stadtbild eines Schweizer Käses wird für alle teuer. Zu teuer. Doch auch in der Verwaltung regte sich Widerstand: Die Stadträte fürchteten, mit dem Abriss von Plattenbauten ginge preiswerter Wohnraum verloren. Auch hier argumentierten Ralf Heymel und seine Kollegen mit gesamtwirtschaftlichen Kosten – und setzten sich durch.
Günstiges Wohnen
Heute liegt der durchschnittliche Mietpreis in GeWo-Wohnungen zwischen 4,10 Euro und 6,50 Euro pro Quadratmeter bei sanierten Objekten. Im Innenstadtbereich setzt die Stadt auf Verdichtung und zum Teil Lückenschlüsse mit Eigenheimen, Suhl-Nord entwickelt sich auch dank der Nähe zur Autobahn zum Gewerbegebiet. Die Nachfrage nach den städtischen Wohnungen ist Ralf Heymel zufolge rege. Die „Platte“ genießt nach wie vor ein akzeptables Image. In die höherwertig sanierten und damit teureren Objekte ziehen vermehrt Menschen aus dem Umland, die ihr Eigenheim aus Altersgründen aufgegeben haben und in die Stadt möchten.
Vorsichtige Trendwende
Und auch in den zentral gelegenen Einfamilienhauszeilen zeichnet sich eine vorsichtige Trendwende ab: Mancher aus Suhl stammende Familiengründer kommt zurück und entscheidet sich für ein innerstädtische Leben mit kurzen Wegen. Mehrere alte Häuser sind in den vergangenen Jahren saniert worden, in den Gärten sind Kinder beim Spielen zu beobachten, vor den Häusern parken Fahrräder. Freilich ist es keine Massenbewegung: Dafür fehlt Suhl eine Hochschule, und längst nicht alle kommen nach Ausbildung oder Universität zurück. Das durchschnittliche Alter in Suhl liegt mit gut 50 Jahren bis zu zehn Jahre über dem Altersdurchschnitt mancher Universitätsstadt im Westen.
Fachkräfte gesucht
Zwischenzeitliche Pläne für eine Hochschule in Suhl wurden nie verwirklicht. Bürgermeister Jens Triebel bedauert das. Genauso wie die Industrie- und Handelskammer (IHK) verweist der parteilose Politiker darauf, dass der wiedererstarkte kleinteilige Mittelstand längst nach Fachkräften suche: Die Arbeitslosigkeit in Suhl liegt bei fünf Prozent. Vor dem Hintergrund, dass die Löhne teils deutlich unter Großstadtniveau liegen und Menschen von außerhalb schwer in den Thüringer Wald zu locken sind, wären gut ausgebildete Einheimische der ideale Beschäftigtenpool.
Die Zeit ist günstig
Die für Südthüringen zuständige IHK, in einem zentral gelegenen Neubau ansässig, verweist auf die dynamische Entwicklung vor allem umliegender Gemeinden wie Zella-Mehlis oder Meiningen. Auch für die kreisfreie Stadt Suhl würde sich IHK-Geschäftsführer Ralf Pieterwas ein beherzteres Vorgehen von Politik und Verwaltung wünschen. Die Zeit sei wegen der konjunkturellen Situation und der Stimmung günstig. Hinzu komme außerdem, dass in den Unternehmen nach und nach die Jungen das Ruder übernähmen, sagt Ralf Pieterwas. „Die neue Generation spricht Englisch.“
Gegeneinander statt gemeinsam
Umso unverständlicher erscheint nicht nur dem IHK-Geschäftsführer die Fehde, die sich die benachbarten Gemeinden in der Gegend liefern. Anstatt bei Gewerbeansiedlungen, Verwaltung und Tourismusentwicklung an einem Strang zu ziehen, scheinen sich die Südthüringer lieber einander, wo immer möglich, das Wasser abzugraben – sei es beim Buhlen um Gewerbesteuereinnahmen, bei Schulstandorten oder Touristenzahlen. Dabei könnten ein gemeinsames Standortmarketing und intelligente Infrastrukturprojekte womöglich so manche Statistik drehen: Bis 2035 soll die Bevölkerung Suhls nämlich um noch einmal etwa zehn Prozent schrumpfen.