Zu einer spannenden Diskussion haben die beiden Architekten Andreas Hawlik und Evgeni Gerginski ihre Gäste ins Hotel Gilbert zwischen dem Spittelbergviertel und dem Museumsquartier eingeladen: Bernadette Luger (Stabsstelle Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit im Bauwesen, Magistratsdirektion Wien), Jasmin Soravia (Geschäftsführerin Kollitsch & Soravia Immobilien), Gerald Beck (Geschäftsführer ARE/BIG) und Peter Engert (Geschäftsführer ÖGNI). Frei und anders zu denken ist wie immer beim ArchitekturMorgen erwünscht.
Eine neue OIB-Richtlinie
Zur nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen im Gebäudesektor wird aktuell eine neue OIB-Richtlinie vorbereitet. Bernadette Luger: „Die Herausforderung war, dass das Grundlagendokument zur Grundanforderung 7 nicht von der EU selbst erstellt wurde, wie das entsprechend bei den bestehenden sechs OIB-Richtlinien der Fall war, sondern von den Mitgliedsstaaten selbst entwickelt werden musste. Nachdem das Grundlagendokument im Jahr 2023 von der Generalversammlung des OIB beschlossen worden ist, wird nun intensiv an der Richtlinie gearbeitet.“ Geplant ist, dass diese im Jahr 2027 veröffentlicht wird. „Die Arbeit im Sachverständigenbeirat zur Richtlinie ist das eine, aber das andere ist, dass wir uns als Stadt intensiv damit auseinandersetzen, wie wir es schaffen, Gebäude kreislauffähig zu errichten.“ In Wien wartet man nicht auf die Veröffentlichung der OIB-RL 7, sondern arbeitet bereits parallel dazu daran, die Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen voranzutreiben – die Zeit drängt schließlich. Die Arbeit an der Transformation findet im Rahmen des eigens dafür aufgesetzten Programms „DoTank Circular City Wien 2020-2030“ statt, das Bernadette Luger leitet. Die Frage, die sich aufdrängt: Woran macht man die Kreislauffähigkeit fest? Die Stadt Wien stellt sich dem Thema und arbeitet gemeinsam mit Expertinnen und Experten an einem Wiener Zirkularitätsfaktor (ZiFa) als Orientierungsrahmen für den Transformationsprozess. Bernadette Luger: „Die Entwicklung basiert auf einer Analyse bestehender Systeme sowie einem Screening zentraler Vorgaben aus der EU-Taxonomie-Verordnung.“ Seit Sommer 2024 liegt der ZiFa in Version 1.0 vor, der in Form eines Orientierungsleitfadens unterschiedliche Vorgaben und Kriterien bündelt. „Nun werden die im Forschungsprojekt entwickelten Anforderungen in der Praxis an realen Bauvorhaben getestet – mit dem Ziel, die Bewertungsmethode weiterzuentwickeln, zu vereinfachen und zu optimieren, kurz: anwender*innenorientiert zu gestalten“, erzählt Bernadette Luger. Bei den Bauvorhaben handelt es sich sowohl um Neubauten als auch um Sanierungen. „Der ZiFa ist unser ‚Vehikel im Transformationsprozess‘, mithilfe dessen wir erproben, was in der Praxis bereits möglich ist, welche Ziel- und Grenzwerte für eine Kreislaufwirtschaft im Bauwesen sinnvoll sind und wo noch Maßnahmen für eine breite Umsetzung fehlen“, ergänzt Luger. In zwei Jahren soll die Version 2.0 vorliegen und breit angewandt werden können. „Die große Hausforderung ist, dass wir zirkuläres Bauen umsetzen wollen, uns aktuell aber – noch – in einem linearen Wirtschaftssystem befinden. Die Transformation zur Kreislaufwirtschaft ist zwar ein Kraftakt, doch die Alternative – das Festhalten an der Linearwirtschaft – ist weder ökologisch noch ökonomisch tragbar“, erklärt Luger.
Zwei Grundgedanken
Die Kreislaufwirtschaft verändert den Zugang zu Immobilien. Als großes Ganzes stehen zwei Aspekte im Raum: Sollen Gebäude weggerissen werden, um neuen Platz zu machen, oder sollen sie umgenutzt werden? Wohin es in der Zukunft geht, zeige sich bei neu errichteten Immobilien ganz klar, so Andreas Hawlik: „Wir müssen Strukturen bauen, die so flexibel sind, dass man sie nach 20, 30 Jahren umnutzen kann und nicht wie derzeit einige ältere Projekte wegreißen muss.“ Ähnlich sieht es Peter Engert: „Die beste Form der Kreislaufwirtschaft ist, die Substanz weiterhin zu nutzen. Alles, was recycelt wird, ist schlecht.“
„Das Gründerzeithaus ist ein Paradebeispiel“, schwärmt Jasmin Soravia von den flexiblen nachhaltigen Immobilien: „Ich bin ein Fan davon. Die Gründerzeithäuser haben bereits so viele Lebenszyklen hinter sich – und erfinden sich doch immer wieder neu.“ Diese einzigartigen Gebäude nur aufgrund ihres Alters abzureißen wäre definitiv der falsche Weg. „Das Gründerzeithaus ist ein optimiertes Gebäude“, meint Andres Hawlik: „Was es technologisch und bautechnisch damals gab, wurde beim Bau verwendet.“ „Allerdings gab es damals auch noch keine schädlichen Baustoffe wie Kunststoffe und andere Produkte auf Rohölbasis“, ergänzt Evgeni Gerginski.
Ein vorausschauendes Produkt also, und ziemlich sicher hat man sich vor 160 Jahren kaum mit dem Thema Lebenszykluskosten und künftige Nutzeranforderungen beschäftigt. 1859 wurde die zweite Wiener Bauordnung per Gesetz erlassen. Sie war die Grundlage für die Gründerzeithäuser. Sie war dermaßen einfach gestaltet, dass es unglaublich anmutet, dass auf dieser Basis Gebäude entstanden, die über 150 Jahre überdauert haben. Mittlerweile sind aber die Vorgaben viel komplexer und machen den Bau schwieriger. Peter Engert bringt ein wesentliches Argument: „Ich kann nicht heute Anforderungen bei einem Bau erfüllen, von denen ich nicht weiß, ob sie in 50 Jahren noch Gültigkeit haben werden.“
Abbruch oder Umnutzung?
„Wäre Abbruch wirklich die einzige Alternative?“, wirft Gerald Beck ein, dessen Arbeit als Geschäftsführer der BIG täglich mit dem Erhalt alter Substanz verbunden ist. Er führt mit der „alten“ WU im 9. Bezirk ein Beispiel an. Die Nutzung für das Gebäude wurde definiert, und im städtebaulichen Wettbewerb ist wenig Abbruch und Rückbau vorgesehen, allerdings die Schaffung von Grünräumen: „Wir sind sehr gespannt, welche Wettbewerbsbeiträge kommen.“ Im Auftrag der BIG werden unter anderem auch die Semmelweisklinik und das ehemaligen orthopädischen Krankenhauses Gersthof umgebaut. Aus der Semmelweisklinik wird ein Bildungsstandort und aus dem ehemaligen orthopädischen Krankenhaus Gersthof eine Modellschule. „Das ist enorm aufwendig“, so Gerald Beck: „Man braucht eine clevere Architektenschaft, die etwas Gutes dabei herausholt.“ Solche speziellen Gebäude sind noch wesentlich komplexer als ein Neubau und auch kostenintensiver. Bis jetzt ist es noch so, dass die Bauträger die Gesetze durchblättern und die Lücke suchen, wo sie durchkommen, um das Gebäude abzureißen. Das kann aber nicht das Ziel sein. „Wir brauchen einen Switch im Mindset“, sagt Gerald Beck und führt als Beispiel eine Stadt in Italien an, die ihre Parkplatzprobleme nicht in den Griff bekam. Bis man schließlich im Gemeinderat umdachte und statt Strafen das Fahrradfahren belohnte. Damit war das Problem gelöst. „Nachhaltigkeit wird langfristig nur funktionieren, wenn es sich rechnet“, so Gerald Beck: „Wenn die Einzelnen sehen, dass es etwas bringt.“
Umnutzung durch Gesetzesänderung ermöglichen?
Ein anderes Beispiel, das bei der Diskussion erörtert wurde, ist die Umnutzung von Wohnhäusern in Büros. In solchen Fällen treten die Probleme oftmals schon bei der Raumhöhe auf. „Wenn ich eine Bausubstanz habe, die mit 2,40 Metern Raumhöhe für Wohnen geeignet ist, aber nicht für ein Büro, dann kann man doch nicht die Substanz zerstören“, meint Peter Engert und fragt, ob man sich in solchen Fällen nicht darüber Gedanken machen sollte, die Gesetze und Verordnungen anzupassen: „Man kann Ausnahmen machen, die gibt es auch schon, aber es sind unendliche Genehmigungswege. Wenn eine alte Bausubstanz genutzt wird, dann sollte man auch alle Erleichterungen bekommen.“ Bernadette Luger zeigt sich allerdings skeptisch: „Ja, Rahmenbedingungen müssen sich weiterentwickeln, aber zuerst muss auch geprüft werden, was innerhalb der bestehenden noch möglich ist.“ Die Herausforderungen durch die Raumhöhe stellt sie nicht in Abrede, aber „grundsätzlich würde die Bauordnung, so wie wir sie haben, das kreislauffähige Bauen nicht verbieten“.
„Die Bauordnung ist nach wie vor auf Neubau ausgerichtet und nicht auf Sanierung, Umnutzung und Erweiterung“, sagt Peter Engert. Die rechtlichen Rahmenbedingungen wären etwa mit dem Paragraf 68 in der Bauordnung zwar vorhanden, aber dessen „Interpretation in den Behörden ist eher restriktiv“, so Evgeni Gerginski: „Es gibt kaum jemanden, der solche Projekte zuvorkommend und unbürokratisch abwickelt.“
Die Wiederverwendung von Werkstoffen
Es braucht allerdings ein klares Prozedere, wann ein Abbruch gerechtfertigt ist, denn gar nicht abbrechen ist keine Alternative. Es geht zwar um den Erhalt der Ressourcen – aber eben nicht um jeden Preis. „Am besten ist es, ein bestehendes Gebäude so lange wie möglich zu nutzen“, findet Jasmin Soravia, „aber es muss ökonomisch darstellbar sein.“ Die Wirtschaftlichkeit ist immer noch eine der treibenden Kräfte in der Immobilienbranche.
Die Frage stellt sich auch, ob sich bei diesen alten Gebäuden die Werkstoffe tatsächlich wiederverwenden lassen. „Ziegelwände oder Ziegel to rent?“, formuliert es Jasmin Soravia etwas provokativ – trifft aber genau den Punkt. Peter Engert: „Das ist bei der Zertifizierung unser Problem. Was lässt sich wiederverwenden und was nicht?“ Wobei sich auch bei diesem Thema zeigt, dass es nicht einseitig betrachtet werden darf. „Bei manchen Produkten sieht man, dass die Konzepte funktionieren“, meint Bernadette Luger. Entscheidend ist, wie wertvoll der Rohstoff ist, wo er verbaut ist und ab wann seine Wiederverwendung ein Geschäftsmodell ist. So ließe sich zum Beispiel die Innenausstattung oder das Material für den Innenausbau von Büros leichter einer Wiederverwendung zuführen als verbaute Werkstoffe in den Gebäuden.
Letztendlich sollte man so bauen, dass die Gebäude in 80 bis 100 Jahren wiederverwertet werden können. Da liegt aber die Crux, denn wir sind noch lange nicht so weit. Gipskartonplatten wollen die Unternehmen wieder zurück, da sie sich gut recyceln lassen, auf der anderen Seite fehlt der Rohstoff Altmetall, und Holz ist auch nicht immer verwertbar. Holz, das in Innenräumen verwendet wird, ist in jedem Fall leichter einer neuen Nutzung zuzuführen. Bei tragenden Elementen sieht die Sache bereits anders aus. Andreas Hawlik: „Wir haben für ein Projekt in Mödling Holzdecken in Gerasdorf ausgebaut und in einem anderen Gebäude wiederverwendet – das ist der einzige Fall, wo es uns gelungen ist.“
Kreislaufwirtschaft oder Klima?
Noch nicht ganz ausgegoren ist die Antwort auf die Frage , woran eine sinnvolle Nachhaltigkeit festgemacht werden soll. „Wollen wir sklavisch auf die Kreislaufwirtschaft schauen oder auf das Klima?“, gibt Gerald Beck zu bedenken: „Soll der Bestand um jeden Preis erhalten bleiben, oder wollen wir der CO2-Bilanz Priorität einräumen?“ Gerald Becks Vorschlag: „Man sollte die gesamte Diskussion auf eine Metaebene heben und sich auf den CO2-Fußabdruck konzentrieren. Wir hätten dann einen anderen Fokus. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft keine Gebäude mehr einreichen können, die keine CO2-Nachhaltigkeit schaffen.“ Der Plan wäre, den Energieausweis durch einen CO2-Ausweis zu ersetzen. Dann wäre es auch die bessere Lösung, ein – zum Beispiel 80-jähriges – Gebäude wiederzuverwerten. Peter Engert: „Wir arbeiten an diesem CO2-Ausweis. Wir sind noch mitten in der Diskussion.“ Es stellt sich die Frage, ob es sinnvoller ist, das Gebäude oder das entstehende CO2 einer Besteuerung zu unterwerfen. Bernadette Luger ist von der Sinnhaftigkeit einer gesamtheitlichen Betrachtung überzeugt und findet, dass man Emissionen über den Lebenszyklus betrachten muss. „Die Kreislaufwirtschaft ist auch ein Werkzeug für den Klimaschutz, weil WENIGER verbrauchen, LÄNGER nutzen und WIEDERverwenden auch dazu beiträgt, dass wir graue Emissionen reduzieren.“
„Bei Altbauten wie Gründerzeithäusern wäre diese Lösung optimal“, so Jasmin Soravia. Letztlich wird eine sinnvolle Lösung darin liegen, den Klimaschutz und die Kreislaufwirtschaft verschränkt zu denken. Um dies dann in die Realität umzusetzen, ist eine „engere Kooperation zwischen den StadtplanerInnen, dem Bauingenieurwesen und den ArchitektInnen notwendig, die auch von Anfang an zusammenarbeiten sollen“, blickt Bernadette Luger in die nahe Zukunft. Jasmin Soravia bestätigt: „Dass die Stakeholder zusammenkommen, unterstreicht das Partizipative am Prozess.“
Die OIB-Richtlinie 7:
Siehe https://www.oib.or.at/de/oib-richtlinien/richtlinien/2023/oib-richtlinie-7-grundlagendokument
Das Grundlagendokument der OIB-Richtlinie 7 besagt, dass ein Bauwerk derart entworfen, errichtet und abgerissen werden muss, dass die natürlichen Ressourcen nachhaltig genutzt werden und insbesondere Folgendes gewährleistet ist:
- Das Bauwerk, seine Baustoffe und Teile müssen nach dem Abriss wiederverwendet oder recycelt werden können;
- das Bauwerk muss dauerhaft sein;
- für das Bauwerk müssen umweltverträgliche Rohstoffe und Sekundärbaustoffe verwendet werden.