Zwei Zahlen zeigen drastisch die Dramatik der Situation: Täglich verbauen wir rund 15 Fußballfelder, das sind in etwa 11,5 Hektar, um neue Gebäude, Straßen und Wege zu schaffen. Andererseits gibt es einen Gebäudeleerstand von rund 400 Millionen Quadratmetern. „Jede Österreicherin und jeder Österreicher ‚besitzt‘ – statistisch betrachtet –neben dem Wohnsitz fast 50 Quadratmeter Gebäudefläche, die derzeit ungenutzt brachliegt“, bringt es Nikolaus Lallitsch, Geschäftsführer von Raiffeisen Immobilien Steiermark, auf den Punkt. „Österreich ist der wenig ruhmhafte Europameister in puncto Flächenverbrauch“, meint Andreas Holler, Geschäftsführer der BUWOG Group. Um eine Initiative gegen diesen Missstand zu setzen, entwickelt das Unternehmen gemeinsam mit Peter Lorenz von LORENZATELIERS als Teil des Gesamtprojekts „RIVUS“ einen multifunktionalen Baukörper mit vier Nutzungen in horizontaler Schichtung: Er verfügt über ein halb versenktes Parkdeck, einen Lebensmittelmarkt, eine 17-klassige öffentliche Volksschule und Freiflächen auf dem Dach. „In der städtebaulichen Vergangenheit hätte man vier Grundstücke beansprucht“, so Andreas Holler: „Unser Projekt ‚RIVUS‘ zeigt, wie der Städtebau der Zukunft aussehen muss – mehrere, in diesem Fall vier Nutzungen auf einem Grundstück.“
Das Zinshaus – ein altes funktionierendes System
Vor 120 Jahren war das noch anders. Zu jener Zeit, als Wien schon einmal 2,5 Millionen Einwohner hatte, war die Bodenversiegelung vielleicht noch kein Thema, in Sachen Bodennutzung gab es jedoch schon damals gute Lösungen. Das „typische Wiener Zinshaus“ gehörte dazu, sagt Wolfgang Fessl, geschäftsführender Gesellschafter von Reinberg & Partner: „Damals hatte man es schon verstanden, unterschiedliche Nutzungen im Haus so zu arrangieren, dass eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz derselben möglich war.“ Im hofseitigen Souterrain gab es Werkstätten und produzierendes Kleingewerbe, im straßenseitigen Erdgeschoß waren Verkaufslokale untergebracht – oben wurde gewohnt.
Zinshaus 2.0
Jetzt haben sich die Anforderungen geändert, und die Lagequalitäten haben sich verschoben. Das Gewerbe wurde zum großen Teil aus der Stadt in die Vororte gedrängt. „Drinnen wohnen und draußen vor der Stadt arbeiten ist aber kein Zukunftsprojekt“, so Wolfgang Fessl. Daher gibt es jetzt in Wien die „produktive Stadt“: „Damit ist die gewerbliche Nutzung der Sockelzonen von Wohnbauten gemeint, also praktisch das Zinshaus 2.0 statt zusätzlicher Bodenversiegelung.“
Wohnen auf dem Nahversorger
Eine weitere Bodenversiegelung vermeidet auch die IMMOFINANZ mit ihren Wohnbauten „ON TOP living “. Rund 50 Prozent der bestehenden und künftigen europaweiten eingeschoßigen Retailparks der Marke „STOP SHOP“ sollen überbaut und damit „preisgünstiger und ressourcenschonender Wohnraum“ oberhalb von Nahversorgern generiert werden. Mittelfristig seien so bis zu 12.000 neue Wohnungen möglich, die in modularer Holzbauweise und klimaneutral errichtet werden sollen. Fünf „On Top Living“-Pilotprojekte auf Fachmarktzentren sind als erster Schritt geplant: in Maribor, Prag, Bratislava, Belgrad und in Wien-Simmering.
Neben einer sinnvollen Nachnutzung von „brown fields“, etwa von alten Bahnhofsarealen oder Industriegründen, werden auch bereits bestehende Gebäude weiter genutzt. „Abriss und Neubau mögen also oft die ökonomischeren Lösungen sein – die nachhaltigeren sind sie nicht“, meint CUUBUUS-Gründer und CEO Eduard Mair. Anhand des Projekts „Das Artmann“ erbrachte CUUBUUS einen theoretischen Vergleich, da das Gebäude nicht abgerissen, sondern revitalisiert wurde. Theoretisch war der Vergleich deshalb, da beim „Artmann“ der Abriss aufgrund des Denkmalschutzes – es handelt sich um ein ehemaliges k. u. k. Militärverpflegungsgebäude in Wien-Leopoldstadt – in der Praxis gar nicht möglich war. Die Umsetzung in der jetzigen Form kann sich nicht nur sehen lassen, sondern ist aus ökologischer Sicht auch ein unterstützendes Argument für die Erhaltung alter Bausubstanz.
Smart City Graz-Mitte
„Pyjama-Siedlungen”, wie Nikolaus Lallitsch sie nennt, haben genauso ausgedient wie monokulturelle „Büro-Quartiere“. Die Weiterentwicklung sind Stadtquartiere, in denen es sich zu leben lohnt. Orte hoher Lebensqualität sind Orte der kurzen Wege – mit sanfter Mobilität und nachhaltigen Energielösungen. Lallitsch: „Mit der Smart City Graz-Mitte haben wir einen Prototyp vorgelegt, dessen Reinform absolut zukunftsfähig ist. Dort entscheidet sich die Lebensqualität nicht nur in, sondern besonders auch zwischen den Gebäuden.“
Leben auf dem Land
Unabhängig von den Städten sieht Nikolaus Lallitsch auch auf dem Land Handlungsbedarf: „Die Förderung von Sanierung, Modernisierung, Attraktivierung sollte auf Regionen mit negativer Bevölkerungsentwicklung konzentriert werden, um den ländlichen Raum zu unterstützen, die Ortskerne zu vitalisieren, Junge zum Verbleiben zu ermutigen, Neuansiedlungen zu motivieren oder Infrastrukturen zu stärken.“ Er erklärt das Konzept des „Glücksdorfs“, das auf seine Idee zurückgeht: „keine Retortenstädte, sondern ‚neues Leben‘ rund um bestehende Ortskerne, rund um den Kirchenwirt und die Bank am Hauptplatz“, um der vorhandenen Infrastruktur neue Kraft zu geben. Eine klassische Win-win-Situation.