Cuxhaven-Altenwalde: Das kleine niedersächsische Städtchen Cuxhaven mit seinem alten Ortsteil Altenwalde liegt nahe der Nordsee und ist ein idyllischer Ort. Unzählige Einfamilienhäuser stehen in den Straßen von Altenwalde in ordentlicher Manier nebeneinander. Gebaut wurden viele dieser schmucken Häuschen in den 60er– oder 70er–Jahren als vermeintliche Sicherheit vor finanziellen Nöten und als Altersvorsorge. Doch nun hat sich die Situation gewandelt, und nicht nur in Altenwalde ist das deutlich spürbar. Zahlreiche Vorstädte in Deutschland und auch in Österreich sind Opfer des schleichenden Verfalls geworden.
Geisterhäuser und verwahrloste Gärten gehören mittlerweile vielerorts zum Ortsbild dazu wie die Kirche und der Brunnen zum Hauptplatz: Im österreichischen Leopoldsdorf etwa, einer niederösterreichischen Gemeinde nahe Wien, oder auch in Fresach im kärtnerischen Drautal sowie in zahlreichen Regionen des Südburgenlands und den nördlich gelegenen Siedlungen in Niederösterreich. Weil oft zu wenig Arbeitsplätze vorhanden sind, sind Berufstätige in den meisten Fällen gezwungen, in die Arbeit zu pendeln, wie dies in Leopoldsdorf der Fall ist. Auf der nahe gelegenen Südautobahn lässt sich deshalb ein vermehrtes Verkehrsaufkommen beobachten. Gearbeitet wird hier größtenteils in Wien, gewohnt wird noch in Leopoldsdorf. Starke Abwanderungsraten sind vor allem in den steirischen Gemeinden Eisenerz, Bad Radkersburg und Maria Zell traurige Realität. Diese „Schrumpfungsregionen“ sind vom Leerstand in Österreich besonders betroffen.
Tiefgreifende Veränderungen im Gange
Die Gründe für die „innere Aushöhlung“ eines Orts sind freilich vielfältig: veränderte Familienverhältnisse, hohe Bau- und Energiekosten, wenig Infrastruktur (Stichwort Mobilität!), die massive Zersiedelungspolitik in den Gemeinden, wenig lokale Arbeitsplätze und das langsame Sterben der örtlichen Nahversorger. Oftmals ist es ein Zusammenspiel mehrerer dieser Faktoren, die sich gegenseitig auch bedingen können. Die Hauptgründe sind jedoch der demografische Wandel unserer Gesellschaft mit einer Zunahme der älteren Generation und einer Abnahme an jungen Menschen sowie die generell stattfindende Landflucht, die gerade in strukturschwachen, peripher gelegenen Gegenden ohne touristische Anziehungskraft erfolgt. Junge Menschen aus diesen Gegenden ziehen gerne fort, der Ausbildung und Arbeit wegen. Die Alten bleiben zurück, solange sie können.
Umfrage beweist das Gegenteil
Dabei müsste das nicht so sein: Laut einer Umfrage von sReal und Wohnnet wünschen sich 45% der Befragten eine ländliche Idylle, weitere 19% ziehen ein Leben in einer Bezirksstadt dem in einer Landeshauptstadt oder in der Bundeshauptstadt vor. Um sich diesen Wunsch aber zu erfüllen, muss für die Befragten eine Reihe von Parametern gegeben sein. Für 28% ist die gute Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes mit öffentlichen Verkehrsmitteln Bedingung, weitere 14% würden sofort aufs Land ziehen, hätten sie ein Auto. Zusammen mit den 15%, die einen mobilen Arbeitsplatz als Voraussetzung nennen, machen ganze 57% der Befragten kurze, bequeme, vor allem aber zeiteffiziente Arbeitswege und eine leicht erreichbare Infrastruktur (Lebensmittelhändler, Arzt, Schulen) zur Bedingung für eine Übersiedlung weg aus den Ballungszentren. Wunsch und Realität klaffen hier einigermaßen auseinander.
Weiterhin urbanes Wachstum
Einen starken Zuzug können dafür die Ballungsräume verzeichnen. Die starke Ansiedlung hat sogenannte ”Speckgürtel“ zur Folge, also die verstärkte Besiedelung von Randgemeinden rund um Österreichs Ballungszentren. Betrachtet man Gänserndorf bei Wien, so kann man feststellen, dass dort die Bevölkerung in den Jahren 2003 bis 2013 um 30,1% wuchs. Ähnlich war die Situation in Kalsdorf bei Graz (20,4%) oder Leonding nahe Linz (16,1%). In Gänserndorf bewahrheitet sich außerdem wieder der bekannte Spruch: Was für die Wiener die U-Bahn, ist für die Umgebung die S-Bahn. Je besser angebunden, desto gefragter der Ort.
Obacht bei touristischen Hotspots
Auch touristische Hotspots müssen aufpassen, dass über sie nicht der graue Schleier einer glanzvollen Vergangenheit gezogen wird. Bad Gastein im Salzburger Land, heute eine Ansammlung von Nobelherbergen von anno dazumal, erinnert nur noch schwach an seine goldene Zeit als exklusiver Kur– und Skiort. Den Besucher erwarten dort schwarze Fenster leer stehender Hotels und die morbide Atmosphäre einer sterbenden Gemeinde. Übrigens ist die Landflucht keineswegs ein österreichisch-deutsches Phänomen, besorgniserregende Berichte kommen auch aus dem Schweizer Kanton Graubünden, wo ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind.
Die Frage der Ortsfinanzierung
Straßen, Beleuchtung, Kanalisation– die gesamte Infrastruktur muss nun von der alternden Restbevölkerung finanziert werden. Weil sich die zu Besteuernden verringern, wird der Besteuerungssatz pro Kopf angehoben und ist damit wesentlich höher als in dicht bewohnten Gegenden. Wandert die Landbevölkerung ab, leeren sich die Geldtöpfe der Gemeinden, und es entstehen große Löcher in der Finanzierung der Infrastruktur. Martin Heintel, Univ.-Professor für Geografie und Regionalforschung an der Uni Wien, beschreibt diesen Prozess als „Entsolidarisierung von Stadt und Land“.
Kaum realistische Preiseinschätzung
Das Leben am Land wird für Menschen mit geringerem Einkommen und weiten Wegen in die Arbeit oder zur täglichen Infrastruktur schlichtweg zu teuer. Wer verkaufen kann, der tut es. Doch dieses Vorhaben erweist sich oft als schwieriger als erwartet. Weil die starke Abwanderungsrate die Immobilienpreise nach unten drückt, sind viele Hauseigentümer gezwungen, ihre Häuser um einen Bruchteil des ursprünglichen Kaufpreises zu veräußern. Hinzu kommt, dass diese Immobilien keine zeitgemäße Ausstattung aufweisen und grundlegender Investitionen bedürfen, vor allem im Bereich Energieversorgung. Dass die Kluft zwischen der Verkaufspreisvorstellung und dem tatsächlichen Wert oftmals groß ist, ist mittlerweile recht häufig der Fall. Renate Koppenhöfer, Sachverständige beim Verband Privater Bauherren (VPB), schildert die Situation folgendermaßen: „Meistens sind die Preisvorstellungen völlig überhöht. Die Leute wollen oft so viel Geld haben, als ob es ein Neubau wäre.“ Tiefgreifende Investitionen im Bereich Energie zum Beispiel müssen ebenfalls inkludiert werden. „Oft bleibt dann bei der Gebäudebewertung nicht einmal der Rohbauwert“, so die Expertin. Ein besonderes Problem hat die Stadtplaner von Cuxhaven-Altenwalde bereits eingeholt. Die vielen leer stehenden Einfamilienhäuser werden oftmals nicht erhalten. Lässt man sie stehen, hat dies eine Wertminderung der benachbarten Häuser zur Folge und fördert Verwahrlosung und die Verwandlung ehemaliger Wohnviertel in Problemviertel.
Düstere Prognosen für Deutschland
Wissenschaftler des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln sehen in Deutschland einen Leerstand von 20% der Gebäude auf dem Land oder in Städten mit starken Abwanderungsraten voraus. Es könnte aufgrund unleistbarer Mieten zu Wohnungsnot in den Ballungszentren und auf dem Land zu Leerstand und Verfall kommen. Ob die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt wirklich so dramatisch ausfallen werden, wird die Zukunft zeigen. Und es bleibt zu hoffen, dass geeignete Mittel und Wege gefunden werden, dem ernstzunehmenden Problem der Landflucht effektiv entgegenzuwirken- nicht nur aus volkswirtschaftlichen Erwägungen, sondern auch zur Erhaltung der baulichen Kulturgüter. Was fehlt, ist ein breites Bewusstsein für dieses gesellschaftliche Phänomen von Zu- und Abwanderung, Landflucht und Immobilienleerständen. Und es braucht ebenso kluge und funktionierende Modelle, um die Stadt- und Gemeindekerne wieder zu beleben. Das Unterbinden der Umwandlung von Grünland in Bauland ist nur ein Beispiel dafür. Übrigens: Ein gelungenes Projekt der Ortskernrettung ist die Stadt Haag in Niederösterreich.