Der Launch des iPhones markiert eine Zeitenwende. Nie zuvor wurde die umwälzende Kraft der Digitalisierung so offenkundig wie an diesem Januartag vor zehn Jahren. Er stellt zwar nicht den Start, aber doch einen wichtigen Kristallisationspunkt jenes Trends dar, der die Welt derzeit grundlegend umkrempelt: die Dematerialisierung. Schaut man bei Wikipedia nach, findet man folgende Definition:
Dematerialisierung ist eine Strategie mit dem Ziel, die Stoffströme stark zu reduzieren, die durch menschliches Handeln, vor allem durch wirtschaftliche Tätigkeit, verursacht werden. Dazu soll der Material- und Energieverbrauch des sozio-ökonomischen Systems stark verringert werden. Das dahinter stehende Ziel ist die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bei gleichzeitiger Reduzierung der Umweltbelastungen in absoluten Zahlen.
Dem ist weitgehend zuzustimmen. Allerdings setzt eine Strategie erstens voraus, dass sie sich jemand ausdenkt, und zweitens, dass sie jemand aktiv umsetzt. Dadurch wird das Wesen der Dematerialisierung aber nicht treffend gekennzeichnet. Sie geschieht, und zwar als zwangsläufige Folge der rasant steigenden Leistungsfähigkeit digitaler Technologien. Die Dematerialisierung ist ein übersehener Megatrend. Ihren folgenschwersten Ausdruck findet sie darin, dass sich immer mehr physische Produkte in Software verwandeln, beispielsweise in Apps, wie sie für Smartphones und Tablets in großer Vielfalt zu erhalten sind. „Why Software is eating the world“, proklamierte der Internetunternehmer Marc Andreessen 2011 in einem Beitrag für das „Wall Street Journal“ und kreierte damit ein treffendes Bild:
Software frisst die Welt
Die Betonung liegt auf „Welt“. Denn es wird ja nicht nur ein Produkt, das bislang aus natürlichen oder künstlich erzeugten Stoffen bestand, in Bits und Bytes verwandelt. Die Dematerialisierung geht viel weiter. Wenn wir künftig unsere Autos mit einer App öffnen statt mit einem Schlüssel, wird all das auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein, was zu seiner Produktion notwendig war: die Fabriken, die Maschinen und Anlagen sowie letztlich auch die Arbeitsplätze. Das ist die Kehrseite der neuen, von Software, Services und Daten getriebenen, digitalen Welt – sie sind gleichzeitig die Abrissbirne für ganze Wirtschaftszweige und tradierte Wertschöpfungsketten.
Deutschlands Wirtschaft wird von dieser Entwicklung in ihrem Kern getroffen. Während die Nachfrage nach Maschinen und Anlagen weltweit deutlich sinken wird, wird auch die Automobilindustrie in Zeiten von autonomem Fahren, vernetzten Verkehrssystemen und dem Trend zur Share-Economy deutlich weniger Fahrzeuge verkaufen. Es ist daher goldrichtig, wenn sich zum Beispiel Volkswagen oder Daimler als Mobilitätsdienstleister neu positionieren. Eine Aufgabe, die sich für fast alle Unternehmen stellt: Sie müssen ihre Position in der dematerialisierten, aber hoch vernetzten Wirtschaft neu finden, ihre Hardware in ein Ökosystem von Software und Services einbetten und so einen ganz neuen Kundennutzen generieren.
Dematerialisierung ist allgegenwärtig
Längst ist die Dematerialisierung allgegenwärtig. Die Finanzbranche ist ein gutes Beispiel für die Veränderung. Landauf, landab schließen Banken ihre Filialen. Viele erfolgreiche Geldhäuser wie die ING-DiBa sind seit jeher reine Onlinebanken. Überhaupt sind viele der erfolgreichsten Unternehmen der Welt „software only“: Sie stellen nichts anderes als Online-Plattformen zur Verfügung. Damit treiben sie einen Keil zwischen tradierte Unternehmen und deren Kunden. Uber koppelt die Taxiunternehmen von ihren Fahrgästen ab. Airbnb schaltet professionelle Anbieter von Unterkünften komplett aus. Booking.com hat die Kundenbeziehungen der Hotelbetreiber gekapert. Ebay und vor allem Amazon haben den Einzelhandel für immer verändert und setzen den stationären Handel unter enormen Druck.
Die Medien sind voll von entsprechenden Meldungen und Schlagzeilen, aber dass sich hinter diesem dramatischen Wandel der Megatrend „Dematerialisierung“ verbirgt, schreibt niemand. Dabei wäre es wichtig, die Umwälzungen von dieser übergeordneten Warte aus zu betrachten. Dann würden Politiker und auch Manager besser verstehen, was auf sie, die Menschen und die Gesellschaft zukommt: eine Welt, in der es für fünfzig Prozent der Menschen keine Arbeit mehr gibt. Zwei Forscher der Oxford University haben das ausgerechnet. Zwar für den US-amerikanischen Arbeitsmarkt, aber Adaptionen für Deutschland sehen nicht erfreulicher aus.
Politik im Tiefschlaf
Warum steht das Thema nicht längst ganz oben auf der politischen Agenda? Weil die meisten Entscheidungsträger einmütig denselben Fehler begehen: Sie schreiben die Vergangenheit linear in die Zukunft fort – als würde die Welt in schöner Regelmäßigkeit Jahr für Jahr um ein paar Prozent digitaler. Deshalb sonnt sich die Bundesregierung in guten Wirtschaftsdaten und fördert das Konzept der Industrie 4.0, mit dem das gute alte Fabrikwesen weiter optimiert wird. Diese Irrtümer können Deutschland den Wohlstand und die Führungsrolle als Ingenieurs- und Exportnationen kosten. Sie spiegeln eine Haltung aus überholten, analogen Zeiten, in denen sich Wachstum, Produktivität, Exportquoten und Steueraufkommen Jahr für Jahr nur minimal nach oben oder unten bewegten.
Die Leistungskraft der IT explodiert
Wer aus dieser flachen Perspektive auf die digitalisierte Welt schaut, übersieht fast zwangsläufig, wie die Leistungskraft der IT explodiert und die wirtschaftlichen und sozialen Gewissheiten ins Rutschen kommen. Dabei wird uns der digitale Fortschritt der letzten 20 Jahre schon bald als embryonales Stadium einer neuen, digital geprägten und hypervernetzten Welt vorkommen.
Gordon Moore hat bereits in den 1960er Jahren beobachtet, dass sich die Leistungsfähigkeit der Computerchips etwa alle zwei Jahre verdoppelt. Mittlerweile wissen wir, dass es noch schneller geht, eher im Rhythmus von ungefähr 18 Monaten. Darauf kommt es aber gar nicht an. Entscheidend ist, dass man sich die exponentielle Leistungssteigerung der IT vergegenwärtigt. Wir stehen genau am Fuße jenes Knicks, an dem die Kurve steil nach oben schießt. Hier entsteht die Energie, die die Dematerialisierung treibt. Kein Wunder, dass Erik Brynjolffson und Andrew McAfee vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in ihrem Buch „The Second Machine Age“ vom „machtvollen Effekt der laufenden Verdopplung“ sprechen. Wer aufmerksam in die Welt schaut, sieht die exponentielle Kraft der IT an vielen Stellen am Werk. Plötzlich sind Machine Learning und Künstliche Intelligenz keine Themen mehr fürs Labor, sondern reale, am Markt verfügbare Technologien. IBM hat seine Künstliche Intelligenz Watson längst ins operative Geschäft überführt, analysiert medizinische Studien für die Medizin, die unstrukturierten Daten des Social Webs für Einzelhändler und Dienstleister. Googles „Alphago“ besiegte Anfang 2016 in einem spektakulären Match den weltbesten Go-Spieler. Auch im 3D-Druck und in der Robotik ist der Fortschritt gewaltig.
Gleichzeitig entsteht eine neue Infrastruktur des Wohlstands: das Internet der Dinge. Eine Weltmaschine. Optimistische Schätzungen erwarten für 2020 26 Milliarden, je nach Quelle gar 50 Milliarden vernetzte „Dinge“, wobei die Smartphones und Tablets noch gar nicht mitgerechnet sind. Darin liegen, so prognostiziert es das Marktforschungsinstitut Gartner, 1,9 Billionen Dollar an Wertschöpfung. Davon entfallen 80 Prozent – ganz im Trend der Dematerialisierung – auf Software und Services. Wenn wir über Dematerialisierung reden, geht es um nicht weniger als um die Neuverteilung der Welt. Eine Entwicklung voller Risiken, aber auch voller Chancen. Sie gilt es zu identifizieren und zu nutzen. Aber zuerst müssen wir verstehen lernen, was im Zuge der Digitalisierung wirklich passiert.