Die „German Angst“, also ausgerechnet die zögerliche, zurückhaltende, defensive Mentalität, für die Deutschland oftmals belächelt wird, fungiert aktuell als Katalysator unserer Wirtschaft und könnte die treibende Kraft sein, durch die die Bundesrepublik medizinisch sowie ökonomisch als Gewinner aus der Krise hervorgehen wird. Dieses Fazit zogen Jennifer Güleryüz, Marcus Lemli, Mathias Lohmer und Bert te Wildt, die sich im Rahmen eines Pressegesprächs aus immobilienwirtschaftlicher und psychologischer Sicht mit der Frage beschäftigten, was Angst mit unserer Wirtschaft macht.
Angst als kreatives Moment
Der Wortstamm der Angst ist auf „Beengung“ bzw. „Bedrängnis“ zurückzuführen und beschreibt einen der menschlichen Urinstinkte. „Die Furcht ist ein notwendiges Gefühl, das als intensivste Emotion gleichermaßen disruptiv wie kreativ wirken kann. Es veranlasst uns dazu, Risiken zu bewerten und neue Wege zu gehen. Denn in die Enge getrieben sind wir dazu gezwungen, umzudenken und alles Bestehende zu hinterfragen“, erläutert Prof. Bert te Wildt, Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen. „Mit dem Rücken gegen die Wand können wir mehr Anlauf nehmen und dynamischer denn je Transformations- und Informationsprozesse vorantreiben.“ Doch was konkret bedeutet das für aktuelle Entwicklungen in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft und schlussendlich auch in der Immobilienbranche?
Die „German Angst“ als Anker im sicheren Hafen
Deutschland ist im internationalen Vergleich die Nation, die als Angstgesellschaft getrieben ist von Sorgen und dem immerwährenden Drang nach höchstmöglicher Sicherheit. Schon vergangene Krisen wie der Lehman-Crash haben gezeigt, dass uns genau diese „German Angst“-Mentalität auf das Schlimmste vorbereitet und sich die deutsche Wirtschaft aufgrund ihrer Resilienz wahrscheinlich umso schneller wieder erholt. Binnen neun Monaten nach der Finanzkrise 2008 stiegen die Transaktionsvolumina an den bundesweiten Immobilienmärkten beispielsweise wieder an. „Deutschland wird aktuell mehr denn je als sicherer Hafen gehandelt. Wir verfügen über eines der weltweit besten Gesundheitssysteme, sind fiskalpolitisch divers aufgestellt, und unsere guten Fundamentaldaten sowie die stabilen gesellschaftlichen Verhältnisse veranlassten bereits vor der Krise sowohl nationale als auch internationale Akteure, in hiesige Anlageprodukte zu investieren. Diese Entwicklung wird sich trotz einer anfänglichen Eintrübung und größerer Verunsicherungen auf Nutzerseite voraussichtlich auch in der Post-Pandemie-Phase fortsetzen, da wir im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor gut dastehen dürften“, prognostiziert Marcus Lemli, CEO Germany und Head of Investment Europe bei Savills.
Doch auch trotz dieser vergleichsweise guten Ausgangslage werden sich sowohl Investoren als auch Nutzer neu aufstellen müssen, um für den notwendigen Wandel gewappnet und in der „neuen Normalität“ bestmöglich aufgestellt zu sein. Flächenkonzepte werden angesichts groß angelegter Home-Office-Strukturen überdacht, deutsche Investoren könnten ihre Portfolios verstärkt auf die Heimatmärkte sowie Core-Lagen und -produkte ausrichten, da diese durch eine vergleichsweise hohe Stabilität und Sicherheit punkten. In Bezug auf internationale Anlagevehikel spricht hingegen vieles für eine zunehmende Diversifizierung der Portfolios, um eine größtmögliche Risikostreuung generieren zu können.
Strukturwandel auf allen Ebenen
Nicht nur in Bezug auf die Anlage- und Anmietungsstrategien finden Transformationsprozesse statt. Covid-19 und die damit einhergehenden Ängste wirken als Beschleuniger bereits angeschobener Prozesse. „Mit den Arbeitsprozessen werden auch unsere Städte und Gebäude effizienter, die Digitalisierung ist omnipräsent. Angesichts fest implementierter Home-Office-Strukturen sinkt der Pendlerverkehr, Radwege werden ausgebaut. Zeitgleich steigt der Wunsch nach Austausch und Erholung, der mitunter in eine steigende Relevanz des öffentlichen Raums und die Schaffung von innerstädtischen Grünflächen mündet“, berichtet Jennifer Güleryüz, Associate Research Germany bei Savills. „Eine zunehmende Stadtflucht halte ich daher für unwahrscheinlich, da die urbane Lebensqualität deutlich steigen wird.“ Damit einher ginge auch die Restrukturierung der Arbeitswelten. Das Büro der Zukunft wird vermutlich flexibler sowie agiler sein und muss als Begegnungsstätte und Kreativpool Mehrwerte für die Arbeitnehmer schaffen. Der Flächenbedarf an den Büromärkten wird sich dahingehend anpassen.
Berater als Visionäre in der Krise
Die veränderten Strukturen auf beruflicher sowie privater Ebene stellen Führungskräfte und Berater vor neue Herausforderungen. „Es gilt, sein Gegenüber an die Hand zu nehmen, Orientierung zu geben und neue Lösungswege sowie Umgangsformen aufzuzeigen. Agiles statt zentralisiertes Arbeiten ist nun gefordert. Spätestens jetzt fällt auf, dass viele soziale Konstrukte in der Krise sogar besser funktionieren als im normalen Umfeld. Beziehungen werden gestärkt, das Bewusstsein füreinander und die Wertschätzung zwischen Mitmenschen und Kollegen nimmt zu“, so Mathias Lohmer, Diplompsychologe und Berater bei der M19 Manufaktur für Organisationsberatung. „Dies kann neue Rollenbilder formen und diverse Potenziale in der Zusammenarbeit aufdecken.“ Gleiches trifft auf den Immobilienberater zu: Während und nach der Krise ist es wichtiger denn je, die Bedürfnisse zu verstehen, gemeinsam mit dem Kunden kreativ zu werden, Off-Market-Ansätze zu verfolgen und Optionen zu prüfen, die bislang nicht in Erwägung gezogen wurden. Makler werden mehr denn je als langfristige Partner fungieren, die Investoren, Bestandshaltern und Mietern proaktiv zur Seite stehen, damit diese die Potenziale des deutschen Marktes für sich nutzen können.