Sie entstanden zu einer Zeit, als die Füße das gängigste Verkehrsmittel waren und auch ein Großteil der Waren auf dem Rücken oder mit Handkarren durch die Stadt transportiert wurde. Heute sind sie Oasen in der Großstadt. Allerdings waren sie das nicht immer, und man konnte sie früher auch leichter finden. Mehr noch, sie wurden sogar gesucht, denn sie waren verkehrstechnisch gesehen für die Großstadt Wien enorm wichtig. Die Rede ist von den Durchhäusern.
So besonders wie die Gründerzeithäuser
Die Wiener Durchhäuser sind mindestens so besonders wie die Gründerzeithäuser und mit deren Geschichte auch untrennbar verbunden. Sie befinden sich in den Hinterhäusern der Großstadt und durchziehen ganze Wohnblöcke. Trotzdem entziehen sie sich den Blicken der Vorbeigehenden, die oft gar nichts von diesen einzigartigen Welten bemerken. Entdecken kann man sie erst, wenn man ganz genau schaut, denn viele verbergen sich hinter unscheinbaren Eingängen. Rund 700 gibt es heute noch, und sie gelten als eine architektonische Besonderheit von Wien.
Treffpunkt und Oase im Haus
Dabei wurden sie prinzipiell nicht unbedingt aus architektonischen Gründen gebaut wie die Gründerzeithäuser, sondern vielmehr aus praktischen. Innenhöfe und Durchhäuser waren in früherer Zeit Treffpunkte in den Wohnblocks. Grund für diese wichtige Rolle war der zentrale Hausbrunnen, der mehrere Häuser mit dem notwendigen Nass versorgte – mehr als das, er war die sprichwörtliche Oase und das Lebenszentrum des Hauses. Hinter den prunkvollen Fassaden der Bürgerhäuser herrschte geschäftiges Treiben. In den meist schlichten Hinterhöfen wurde gearbeitet, Wäsche gewaschen, getratscht, und die Kinder spielten auf dem Kopfsteinpflaster. Hier fand das Leben der Menschen abseits der Straßen statt. Verständlich. Wohin hätte man auch gehen sollen? Die Wohnungen der normalen Bürger waren klein und Wohnraum knapp. Wer als Bettgeher auf seinen Platz im „vorgewärmten“ Bett wartete, der tat dies auch vornehmlich im Hof.
Vom Hausbrunnen zur Bassena
Mit der Zeit verloren die Hausbrunnen, von denen es Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien noch rund 10.000 gab, ihre Bedeutung. Die Wasserstelle wanderte im Laufe der Industrialisierung in die Hausflure. Die berühmte Wiener Bassena in den Stockwerken wurde der neue Treffpunkt. Die Innenhöfe und die Durchhäuser waren nicht mehr der Mittelpunkt und daher auch nicht mehr so bevölkert. Im Gegensatz zur Stadt, die wuchs gewaltig.
Die Öffnung der Höfe
Hatte Wien im Jahr 1830 noch rund 400.000 Einwohner, so waren es 50 Jahre später bereits fast 1,2 Millionen. Um den Verkehr auf den Straßen, der sich hauptsächlich zu Fuß abspielte, etwas zu entlasten, beschloss man in Wien, die Innenhöfe für Passanten zu öffnen. Parallel liegende Straßen konnten so durch diese Durchhäuser miteinander verbunden werden. Die Innenhöfe, die von beiden Seiten erreichbar waren, verkürzten damit zahlreiche Wege. Zu einer Zeit, als die Menschen noch selbst die Lasten transportierten, waren Abkürzungen durch die Häuserblocks eine praktische Zeitersparnis. Die Durchhäuser lagen zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen und waren von beiden Seiten zu begehen. Betrachtet man die großen von ihnen, so sieht man, welche riesigen Wohnblöcke oftmals den Weg zwischen den Straßen „versperrten“. Fußgänger und Lastenträger kamen auf jeden Fall schneller von A nach B. Damit änderte sich aber auch ihre Bedeutung. Waren sie früher der Mittelpunkt des Hauslebens, so wurden sie jetzt zu richtigen Verkehrswegen. Dadurch war es vorbei mit dem „höfischen“ Idyll.
Durchzugsstraßen direkt vor dem Fenster
Aus den einstigen Oasen wurden laute Durchzugsstraßen. Diese offenen Durchhäuser wurden von den Hauseigentümern auch „Freiwilliger Durchgang“ genannt. Wie freiwillig dieser Durchgang allerdings für die Bewohner der Häuser war, das sei einmal dahingestellt. Für die Mieter waren die neuen Straßenzüge mitten durch den Wohnblock oft sehr störend. Lärm und Gestank, die sich früher auf den Straßen entwickelten, wurden jetzt faktisch vor die Fenster getragen. Vor allem der Lärm war in den meist engen Höfen ein unangenehmer Nebeneffekt der Öffnung. Schnell etablierte sich eine neue Redewendung im Wiener Sprachgebrauch: „Des is jo ka Durchhaus!“ Damit äußerte man seinen Unmut bei übermäßiger Lärmbelästigung seitens der Verkehrswegnutzer oder auch der Nachbarn. Um die Ruhe im Haus zumindest für die Nachtstunden sicherzustellen, wurden die Tore vom Hausmeister über Nacht geschlossen.
Der besondere Platz in der Stadt
Für die Wienerin und den Wiener sind die Durchhäuser längst nicht mehr aus dem Stadtleben wegzudenken. Sie warten häufig mit Lokalen oder Geschäften im Innenhof auf und laden zum Schauen, Kaufen und Verweilen ein. Viele schätzen sich glücklich, ein Fenster in einen dieser ruhigen Innenhöfe zu haben. Sie bieten genau das, was eine Stadt ausmacht: das Besondere, die Unikate. Kleine Schlupfwinkel, stille Gässchen und begrünte Oasen als Paralleluniversum zum allgegenwärtigen Großstadtgetriebe. Außerdem spürt man hier noch die Ursprünglichkeit der Stadt. Der ganz alten Stadt. Der Stadt, wie sie vor hundert, zweihundert oder noch mehr Jahren existierte. Betritt man nämlich die Innenhöfe, so scheint in einigen von ihnen die Zeit stehen geblieben zu sein – der einzige Unterschied ist, dass die Menschen moderne Kleidung tragen. Würde man solche Kostbarkeiten als Tourist in einer Stadt im Ausland entdecken, dann wäre man hellauf begeistert, könnte tausende Fotos schießen und staunen: Dass es so etwas noch gibt!
Eintauchen ins städtische Leben
In der eigenen Stadt neigt der Mensch aber dazu, solche wunderbaren Plätze zu „übersehen“. Das hat man auch tatsächlich bislang in Wien getan, und so entzogen sich diese Kostbarkeiten nicht nur den Blicken so mancher Anwohner, sondern auch der Touristen. Das soll jetzt anders werden, und Durchhäuser könnten in Zukunft ein Highlight eines Wienbesuchs werden. Natürlich zählen für die Gäste der Donaumetropole etwa das Belvedere und Schloss Schönbrunn zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten – aber auch diese Plätze gehören wohl dazu. Schönbrunn sollte man gesehen, die Durchhäuser aber erlebt und gespürt haben. Vor allem, da der Trend im Tourismus darin besteht, immer stärker ins städtische Leben einzutauchen.
Noch ein Geheimtipp
Mittlerweile hat man begonnen, Tafeln an den jeweiligen Häusern zu montieren, um auf diese Durchgänge aufmerksam zu machen. Nicht nur in den individuellen Reisetagebüchern von Touristen tauchen die Durchhäuser – noch – als Geheimtipp auf, sondern sie werden auch verstärkt in den Reiseführern dieser Welt beworben. In der kostenlos bestellbaren gedruckten Fußwegekarte und auf Web-Routenplanern wie anachb.at sind die Durchgänge übrigens schon eingezeichnet bzw. werden berücksichtigt.
Spaziergang durch Wiens Innenhöfe
„Ein Spaziergang durch Wiens Innenhöfe ist eine ebenso meditative wie geschichtlich interessante Tour, die nichts kostet“, steht in den Reiseführern über Wien: „Verträumte Gassen, versteckte Ecken, Bassena, Pawlatschen und Treppen – und überraschende Grün-Oasen inmitten historischer Mauern und umgeben von Fensterfronten.“ So stellt sich die Frage, ob nicht irgendwann der eine oder andere Hausbewohner – wie damals im Wien der Jahrhundertwende – den Touristen aufgrund des Andrangs ein „Des ist jo ka Durchhaus!“ entgegenschleudern wird …
Dieser Artikel stammt aus „Erster Wiener Zinshaus-Marktbericht“ der Otto Immobilien Gruppe.