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Pionierleistung gestern und heute

Wie in fast allen europäischen Metropolen, so waren auch in Wien die Wohnverhältnisse für die Arbeiter an der Wende zum 20. Jahrhundert katastrophal. Erst mit den Wohnbauprogrammen der ersten sozialdemokratischen Millionenstadt in der Welt verbesserte sich die Wohnsituation spürbar. „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, sagte Bürgermeister Karl Seitz in einer Ansprache anlässlich der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes im Jahr 1930.
In fast allen europäischen Metropolen wurde um 1900 die Wohnsituation der Arbeiterschicht von privaten Mietshauskasernen mit oft unzumutbaren Wohnverhältnissen bestimmt. In Wien war die Lage besonders schlimm, denn durch die Zuwanderungswelle aus den Kronländern Österreich-Ungarns in die Hauptstadt stieg die Bevölkerung von 600.000 Einwohnern im Jahr 1850 in 60 Jahren auf über zwei Millionen, weshalb Wien bis 1918 die viertgrößte Stadt der Welt war.

Ansätze zur Bekämpfung des Elends

Zur Linderung der Wohnungsnot und der unerträglichen Zustände entstand um die Jahrhundertwende der erste Ansatz eines Arbeiterwohnbaus in Form von Werkswohnungen. Die ersten sozialen Wohnbauten wurden für die Mitarbeiter der Ziegelfabrik Wienerberger errichtet. Viktor Adler, der bekannte Sozialdemokrat, war Betriebsarzt bei Wienerberger und setzte sich stark für die Rechte der Arbeiter ein. Die Arbeit von neu gegründeten karitativen Stiftungen und Vereinen– wie zum Beispiel die „Kaiser Franz Josef I. Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen“– war ein zweiter Versuch zur Bekämpfung des Elends.

Drei Viertel aller Wohneinheiten überbelegt

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 ging die Bevölkerungszahl Wiens zwar etwas zurück und verharrte in den 20er- und 30er-Jahren bei rund 1,8 Millionen Einwohnern, aber der Krieg hatte alle Entwicklungen gebremst. 1917 waren fast drei Viertel aller Wiener Wohneinheiten überbelegte Ein- und Zweizimmerwohnungen. Die politischen Veränderungen durch den Sturz der Monarchie bedeuteten aber letztendlich den Beginn einer einmaligen Initiative in Wien, die international als Pionierleistung des städtischen und sozialen Wohnbaus gilt.

Ein einmaliges Konzept

1919 wurde Wien nach der Gemeinderatswahl zur ersten sozialdemokratischen Millionenstadt weltweit. Die Bürgermeister Jakob Reumann (ab 1919) und Karl Seitz (ab 1923) begründeten das Schlagwort vom „Roten Wien“. Sie lancierten Wohnbauprogramme, die durch eine neue Wohnbausteuer finanziert wurden. Einschließlich der nach 1934 fertiggestellten Objekte entstanden in 382 Gemeindebauten 65.000 Wohnungen mit Wohnraum für ungefähr 220.000 Bewohner. Dies war möglich, weil die Gemeinde Wien aufgrund der mangels privater Nachfrage gesunkenen Grundstückspreise eine Vielzahl von Grundstücken zu erschwinglichen Preisen erwerben konnte.

Geprägt von sozialistischen Anschauungen, waren das Grundkonzept und die Ideen dieser Wohnanlagen im Hinblick auf die damaligen Wohnverhältnisse einmalig.

Baulücken und Superblocks

Zwischen 1919 und 1934 wurden über 190 verschiedene Architekten von der Gemeinde Wien beauftragt, die Planungsarbeiten zu leisten. Teils sahen sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, Baulücken kreativ zu nutzen, teils konnten sie riesige Areale als sogenannte „Superblocks“ gestalten. Ein Großteil der damals entstandenen Häuser existiert noch heute, sie sind ein wichtiger Bestandteil der Architektur und Kultur der Stadt geworden. Der erste Gemeindebau, der in Wien errichtet wurde, war der Metzleinstalerhof im 5. Bezirk, als erste große Straßen-Hofanlage entstand 1924 bis 1926 der Jakob-Reumann-Hof am Margaretengürtel mit 480 Wohnungen.

Die „Volkswohnpaläste“

Die Superblocks fungierten als eigene Städte in der Stadt und wurden wegen ihrer Monumentalität auch als „Volkswohnpaläste“ bezeichnet. Sie wurden zumeist in Blockrandbebauung ausgeführt, wobei man durch eine große Toreinfahrt in den oft begrünten Innenhof kommt, von dem aus man zu den einzelnen Stiegen und Wohnungen gelangt. Oft waren bzw. sind in den Gemeindebauten auch Vortragssäle, städtische Bibliotheken, Vereinslokale, Mutterberatungsstellen, Waschküchen, Arztpraxen, Geschäftslokale oder Kindergärten zu finden. Die niedrigen Grundstückskosten und die Vermietung der Wohnungen zu den Selbstkosten der Gemeinde ließen einen wesentlich geringeren Bebauungsgrad zu, als es im privaten Wohnbau jemals profitabel gewesen wäre.

Innenhöfe mit viel Freifläche

Anstelle der vorgeschriebenen 20% erhöhte sich die Fläche der Innenhöfe bei den Wohnblocks auf mindestens 50% und erreichte in einigen Fällen sogar bis zu 80% der gesamten Grundstücksfläche. Während die Wohnungen die Möglichkeit des Rückzugs in die ungestörte Privatsphäre verkörperten, wollte man durch die für alle Mieter geschaffenen Einrichtungen das Gemeinschaftsgefühl fördern. Die Einrichtungen kamen häufig aber auch den in der Umgebung lebenden Menschen zugute. Dadurch wirkte die Errichtung neuer Gemeindebauten als Stadterneuerungsimpuls für ganze Viertel. Der 1930 fertiggestellte Karl-Marx-Hof im 19. Wiener Gemeindebezirk mit 1.382 Wohnungen ist bis heute eine Ikone des „Roten Wien“.

Stopp der Wohnbauprogramme

Angesichts der rasch zunehmenden Arbeitslosigkeit Anfang der 30er-Jahre propagierte die Gemeinde nur noch Kleinhaus-Bauprojekte am Stadtrand als Teil eines Arbeitsbeschaffungsprogramms, und das völlige Versagen der nationalsozialistischen Wohnbaupolitik in Wien führte schließlich zu einem Errichtungsstopp für Wohnbauten.

Die Zeit nach dem Krieg

Erst im Juli 1947 wurde nach 13-jähriger Unterbrechung erstmals wieder eine städtische Wohnhausanlage in Wien-Favoriten Mietern übergeben. In diesem Jahr wurde auch die Dachorganisation der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft in ihrer heutigen Form ins Leben gerufen, die heute die Versorgung der Bevölkerung mit günstigem Wohnraum garantiert. In der Nachkriegszeit erfolgte der soziale Wohnbau unter veränderten politischen und finanziellen Rahmenbedingungen. Das Ziel in der Periode des Wiederaufbaus war vor allem, rasch eine möglichst große Anzahl von Wohnungen bereitzustellen.

Inspiration „sozialer Wohnbau“

In den vergangenen 20 Jahren nahm der gemeinnützige Wohnbau in Wien wieder eine Vorreiterrolle beim Wohnungsneubau ein. Im Jahr 1995 wurden in Wien zwei Instrumente eingeführt, die für mehr Wettbewerb und Qualität im Wohnbau sorgen: Alle Wohnprojekte, die Förderungsmittel in Anspruch nehmen, müssen entweder einen Bauträgerwettbewerb oder den Grundstücksbeirat positiv durchlaufen. Die Beurteilung erfolgt nach den vier Kriterien „Soziale Nachhaltigkeit“, „Architektur“, „Ökologie“ und „Ökonomie“.

90 Jahre nach dem Spatenstich des ersten Wiener Gemeindebaus hat sich zwar die Rolle der Stadt im Wohnbau verändert, aber seine Qualität ist weiterhin einzigartig, und regelmäßig kommen Delegationen aus aller Welt, um sich vom „sozialen Wohnbau“ in der Donaumetropole inspirieren zu lassen.

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  • Erschienen am:
    26.01.2015
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