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Franz Vranitzky und die europäische Idee

Franz Vranitzky leitete von 1986 bis 1997 als Bundeskanzler die Geschicke von Österreich. Heute noch ist er ein unermüdlicher Verfechter der Idee der Europäischen Union, denn er ist überzeugt, dass man nur gemeinsam den aktuellen und kommenden wirtschaftlichen Herausforderungen begegnen kann.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation auf den Finanzmärkten ein?

Vranitzky: Die Finanzsituation weltweit wird sicherlich noch angespannt bleiben, solange die Schuldenproblematik in so vielen Ländern fortbesteht. Da anzunehmen ist, dass diese Problematik nicht von heute auf morgen zu lösen ist, kann man davon ausgehen, dass es weiterhin schwierig bleiben wird. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Es wird weniger investiert, und die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen ist im Vergleich zu den Vorjahren deutlich reduziert.

Wie beurteilen Sie das Bemühen der Länder, diese Probleme in den Griff zu bekommen?

Vranitzky: Die große Anzahl der Länder, die von der Schuldenproblematik erfasst sind, setzen ja zum Teil strenge Maßnahmen, um die Schulden auf ein Maß zu reduzieren, das wir nicht mehr als problematisch bezeichnen müssen. Es ist eine schwierige politische Aufgabe, einen passenden Mix aus Sparen auf der einen Seite und expansive Maßnahmen auf der anderen Seite zu setzen. Überall dort, wo seit 2009 die öffentlichen Ausgaben eingeschränkt werden, läuft das parallel mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums. Würde man das in der heute erkennbaren Linie so fortsetzen, dann würden sich die Staatshaushalte nicht erholen, und es würde auch zu sozialen Verwerfungen kommen.

Was wäre eine Lösung?

Vranitzky: Wir können Österreich als Beispiel nehmen, denn es sind zweifellos im Forschungsbereich und in der Infrastruktur expansive Maßnahmen notwendig. Will man nicht neue Kredite aufnehmen, dann muss man sich den finanziellen Spielraum woanders schaffen– ein Beispiel wäre eine Verwaltungsreform. Seit Jahren tobt im Schulbereich ein Streit zwischen Bund und Bundesländern über die Kompetenzen. Hier wäre eine Vereinheitlichung möglich und notwendig. Dann könnte man die eingesparten Summen für fällige Maßnahmen verwenden. Wir haben prinzipiell in Österreich gute Voraussetzungen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Das betrifft die Arbeitslosenrate, wir haben aber auch ein gutes gesamtstaatliches Wirtschaftsklima durch die Sozialpartnerschaft– dadurch enden bei uns wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen nicht in unkontrollierbaren Streitigkeiten.

Wir müssen aber mit den anderen EU-Staaten mitziehen.

Vranitzky: Natürlich. Unsere positive Basis darf uns nicht zu der Meinung führen, dass wir auf die Dauer nur einzelstaatliche Maßnahmen durchführen können. Eine Abstimmung der EU-Staaten untereinander ist deshalb unentbehrlich, da wir ja sehen, dass sich die Weltwirtschaft in Großräumen abspielt: USA, China, Russland, aber auch in Schwellenländern. Diese Großräume verschaffen sich immer mehr Platz in der Weltwirtschaft. Europa muss sich seiner Stärke bewusster sein.

Sind wir das nicht?

Vranitzky: Nicht in ausreichendem Maße. Es gibt ja Gegenströmungen. Großbritannien ist dabei die Nummer eins der Eigenbrötler in Europa. Indem es sich dagegen wehrt, bestimmte Regulierungen der Finanzmärkte einzuführen, schadet es allen anderen auch. Da die Briten einen Großteil ihrer produzierenden Industrie eingebüßt haben, sind sie auf die Finanzindustrie und den Finanzplatz London angewiesen. Wir beobachten aber auch, dass einige heimische Oppositionsparteien integrationsfeindlich sind und in Verbindung mit dem Boulevard versuchen, Stimmung gegen Europa zu machen. Dabei ist es ganz wichtig zusammenzustehen, wenn man die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes ernst nimmt.

Inwiefern?

Vranitzky: Es gibt ernst zu nehmende Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass ab 2030 gerade noch Deutschland als wahrnehmbare Größe in der Weltwirtschaft aufscheinen wird. Alle anderen europäischen Länder werden zwar nicht kleiner, aber die nichteuropäischen Teilnehmer werden größer. Europas Potenzial ist enorm. Wir haben 500 Millionen Einwohner und eine Masse an Arbeitskraft und Intelligenz, Kultur und Tradition. Das alles können wir nur dann ins Spiel bringen, wenn wir einen gemeinsamen Weg gehen.

Sie sind also weiterhin ein Befürworter der EU.

Vranitzky: Das Wort „Befürworter“ ist zu wenig– ich bin überzeugt: Für eine gedeihliche Entwicklung ist die europäische Einigung eine unabdingbare Voraussetzung. Man darf nicht übersehen, was wir in den vergangenen Jahren schon alles erreicht haben. Dieses europäische Einigungswerk ist ja entstanden als ein Bemühen, einen weiteren großen Krieg zu verhindern und Frieden zu stiften. Es ist aber so, dass man in der Überzeugungsarbeit für das breite Publikum mit dem Friedensgedanken alleine nicht mehr durchkommt, weil schon so lange Frieden herrscht. Unser Bemühen ist es daher, dass die Idee „Europa als Wirtschaftskraft“ an die Seite des Friedensgedankens tritt. Es wurde ja schon sehr viel auf die Beine gestellt, aber es ist eben ein Wesensmerkmal der Politik: Einmal Erreichtes wiegt nicht so viel wie das, was man in der Zukunft will. Deswegen bewegt sich Politik immer in diesem Spannungsfeld. Wenn etwas erreicht wurde, dann waren alle kurz beeindruckt, und dann folgte schon die Frage: Was kommt als Nächstes? Daher darf man sich nicht alleine mit dem begnügen, was man erreicht hat.

Ein Blick in die Zukunft …

Vranitzky: Es wird in jeder Zukunft wichtig sein, mit einem Interessensausgleich der verschiedenen Parteien und Wettbewerber zu allgemein akzeptablen Lösungen zu kommen. Während wir hier in Wien in kommoder Umgebung sitzen, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es Länder gibt, in denen die Freiheit des Einzelnen– in all ihren Ausprägungen– nicht selbstverständlich ist. Die Welt muss noch lange stehen, damit viele dieser Probleme gelöst werden können.

Trauen Sie das den Menschen zu?

Vranitzky: Die Menschheit ist gelegentlich unzuverlässig, aber nicht immer.

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  • Erschienen am:
    03.01.2013
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