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Die Innenstadt ist tot, es lebe die Innenstadt: fünf Visionen zur Innenstadt der Zukunft

Die moderne Innenstadt ist tot – zumindest fast. Eingekauft wird immer öfter online, Umsätze brechen ein, Mitarbeiter werden entlassen, Filialen geschlossen, Restaurants setzen auf Lieferdienste, den Cappuccino gibt’s höchstens to go. Doch tot ist die Innenstadt damit nicht.

Vielmehr hat sich das bisherige Konzept mit seiner Monokultur, bestehend aus austauschbaren Retail-Flächen immer gleicher Filialisten, als unrentabel erwiesen. Aktuell werden die Prozesse, die zum Untergang führen, durch die Pandemie nur weiter beschleunigt. Es lebe also die Innenstadt der Zukunft – sie ist Chance und Herausforderung zugleich. Und besitzt das Potenzial, die moderne City abzulösen. Architektur und Nutzung müssen den Menschen wieder in den Mittelpunkt ihrer Planung rücken.

Gute Architektur bezieht sich nämlich nicht nur auf Formgebung, sondern im Wesentlichen auf deren Interaktion mit dem Leben in ihr und um sie. Die Frage lautet daher: Was macht die Innenstadtarchitektur mit dem Menschen? Projektentwickler, Architekten, Investoren und Nutzer müssen als Antwort auf diese Frage Ideen und Konzepte entwerfen, wie sich das vorhandene Stadtmobiliar für mehr Lebensqualität und Aufenthaltsqualität umnutzen lässt. Ihr neuer, zukunftsorientierter Leitsatz muss lauten: form follows fiction. Eine Fiktion, die jetzt gedacht werden muss. Denn: Die moderne, rein funktionalistische Idee der Innenstadt wird nach Corona nicht mehr fruchten. Weil sie lediglich auf den Konsum ausgerichtet war, nicht aber auf all die anderen, ebenso möglichen Bedürfnisse ihrer Bürger. Fakt ist, dass Investoren und Planer den Wandel angesichts vieler gesetzlicher und bürokratischer Hürden nicht allein vorantreiben können. Es braucht auch gesellschaftlichen und politischen Mut. Nachfolgend fünf Visionen, wie aus der Krise eine Chance für alle Beteiligten wird.

Vision 1: Stadtplanung statt Verkehrsplanung – der Mensch ist das Maß

Die Innenstädte sind gewachsen. Ihre Straßen sind gewachsen. Immer breiter geworden. Breitere Straßen, für mehr und breitere Autos. So die Devise. Wohin aber führt dieses Wachstum, und was macht es mit dem Menschen und der Stadt? Wir sollten eines nicht vergessen: So, wie wir unsere Stadt formen, formt sie uns. Wenn die Innenstadt wieder lebendig werden will, wenn sie wieder lebendig werden soll, muss sie sich dem Tempo des Menschen anpassen. Und dieses liegt in der Regel nicht bei etwa 50 oder 60 Kilometern in der Stunde, sondern bei 5.

Der Wandel, weg von der Verkehrsplanung und hin zur Stadtplanung, braucht aber mehr als diese Erkenntnis. Er braucht vor allem alternative Mobilitätskonzepte, die gefördert und ausgebaut werden. Doch das beste Mobilitätskonzept bringt nichts ohne die nötige Infrastruktur. Daher lautet die Abhilfe: Innenstädte müssen nach und nach zu Orten werden, wo es mehr Fußgänger und Radfahrer als Autos gibt. Andere Städte machen längst vor, was uns Deutschen fehlt. In Kopenhagen, der Hauptstadt unseres Nachbarlands Dänemark, sind Kinder in der Lage, problemlos auf der Straße zu spielen. Auf diese Art von Lebensqualität rekurriert die Innenstadt der Zukunft.

Vision 2: Diversity nicht nur benennen, sondern leben – die soziale Stadt

Der demografische Wandel und seine Auswirkungen sind in Deutschland schon länger in vielen Bereichen des Lebens sichtbar geworden. Während man sich stetig um die zukünftigen Renten und den Mangel an Fachkräften in Pflegeberufen sorgt, fehlt in den Innenstädten von solchen Problemen jede Spur. Der Grund? Auch von alten Menschen fehlt jegliche Spur. Erfahrungsgemäß suchen – auch alte – Menschen nämlich Orte auf, die sie mögen. Orte, die sie nicht mögen, meiden sie.

Die monokulturalistische Entwicklung vergangener Jahre hat immer mehr dazu geführt, dass vor allem alte Menschen aus dem Stadtbild der Innenstädte verschwunden sind. Aber auch das Angebot für Kinder ist mehr als dürftig. Wer bei IKEA etwa in Ruhe einkaufen will, kann das tun. Der Grund: Das Konzept IKEA berücksichtigt in seiner Gestaltung die Bedürfnisse all seiner Besucher. Die Familie, die IKEA aufsucht, würde vielleicht auch gerne die Innenstadt aufsuchen. Man kann aber schlecht von einem dreijährigen Kind erwarten, den Einkaufsbummel der Eltern ohne Beschäftigung durchzustehen. Temporäre Betreuungseinrichtungen, gemäß dem Konzept IKEA, aber auch Spielplätze in den Innenstädten stellen eine sinnvolle Lösung dar. Spielflächen gibt es aktuell, wenn überhaupt, aber höchstens in Neubaugebieten. Nicht selten orientiert sich das Angebot zudem eher an der Pflicht zum Vorhandensein – und nicht an den Bedürfnissen der Sprösslinge.

Bereits seit Längerem bestehen Vorschläge, die das Servicewohnen für Senioren, Kitas und zeitweilige Kinderbetreuung in den Innenstädten möglich machen wollen. Keine schlechte Idee. Man denke an folgendes Mixed-Use-Gebäudekonzept: hier ein paar Büros, da Verkaufsflächen und dann ein Seniorenheim und eine Kita oder eine temporäre Betreuungseinrichtung. Was spricht dagegen? Wenn wir Diversity leben wollen, darf sich die kulturelle Vielfalt keineswegs auf die Bevölkerung jüngeren und mittleren Alters beschränken. Zeitgenössische, beschleunigte moderne Innenstadtkonzepte aber sind in ihrer Gestaltung so angelegt, dass sie vor allem Touristen, Autofahrer und Einkaufslustige anziehen.

Die Langsamen, die sie entschleunigen würden, finden hier keinen Platz. Durch alternative Innenstadtkonzepte kann aber gerade hier ein gemischtes Wohnen und Leben herbeigeführt werden, durch das betagtere und ganz kleine Menschen wieder Teil des Stadtbilds werden und die Kultur einer Stadt maßgeblich mitprägen. Denn Fakt ist auch: Unsere Gesellschaft wird immer älter, und wir sind noch längst nicht an der Spitze dieses Alterungsprozesses angekommen. Holen wir uns also die Senioren im Einklang mit unseren Kindern zurück in die Innenstädte. Für eine soziale Stadt, für Entschleunigung und – damit verbunden: mehr Lebensqualität. Ganz nebenbei eine nicht ganz uneigennützige Idee, da auch wir, die heute planen, älter werden.

Vision 3: Jederzeit lebendige Innenstädte durch Mixed-Use-Konzepte und neue Betreibermodelle

Nur ein Teil der Menschen, die in die Innenstadt kommen, tun dies noch zum Einkaufen. Die meisten bestellen online. Das taten sie auch vor Corona schon. Kunst und Kultur, Cafés und Restaurants – Orte der Begegnung also – stellen mittlerweile eine Seltenheit in den Innenstädten dar. Wer die Münchener Neuhauser Straße, die Zeil in Frankfurt oder etwa die Schildergasse in Köln kennt, weiß, wovon die Rede ist. Eine Entwicklung mit fatalen Folgen für die Lebendigkeit der Innenstadt: Sobald die Retail-Flächen schließen, verwandelt sich selbst die höchstfrequentierte Metropolmeile in eine leere Gasse. Diesem Stadtbild fehlt das Lebendige.

Bereits in früheren Jahrhunderten gab es da bessere Konzepte: Wer in die Innenstadt kam, konnte Handwerker bei der Arbeit in ihren Ateliers beobachten und mit anderen Menschen interagieren, und das auch nach Ende der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten. Kunst und Kultur waren alltäglicher Gegenstand und Mittelpunkt der Innenstädte und der Menschen, die sie besuchten, in ihnen arbeiteten oder gar wohnten. Dabei wollen Menschen genau das. Mit anderen Menschen sein. Soll heißen: sich zu einem Kaffee, zum Essen oder gar zu einem Konzert verabreden. Miteinander ratschen. Alles postcorona versteht sich. Wir müssen zurück zur Cappuccinokultur, in der Innenstädte Orte des Erlebnisses und des Austauschs sind. Erlebnisse, in denen wir Kunst und Kultur, aber auch Menschen erleben und einander tagtäglich begegnen.

Holen wir uns das Kiezgefühl aus Kreuzberg oder Altschwabing zurück in die Herzen unserer Metropolen: ein Nebeneinander von kulturellem und intellektuellem Müßiggang, Leben und Kommerz. Möglich ist diese Art der Lebensqualität jedoch nur, wenn wir die Durchmischung durch multifunktionale, anpassbare Konzepte anstreben und anregen. Während sich die Zusammensetzung der verschiedenen Nutzungen an den jeweiligen lokalen Bedingungen orientieren muss, erweist sich die Kleinteiligkeit mit komplementären Eigenschaften als Muss. Denn nur so lässt sich sicherstellen, dass die Innenstadt auch zeitlich durchmischt ist und nach Ladenschluss noch Leben in sich birgt. Konkreter: Die viergeschossige Retail-Fläche muss ab sofort Platz für kleinere Shops, Büros, Makerspaces, Ateliers, Urban Gardening, Logistik-Hubs, Kitas, altersgruppenübergreifendes Servicewohnen und vieles mehr bieten. Synergie lautet das Credo dieses Konzepts.

Der Vater, der kurz einkaufen und sich zum kreativen Arbeiten in den Makerspace begeben will, sollte die Möglichkeit haben, sein Kind währenddessen in der Betreuungseinrichtung behütet zu wissen und ein Theaterstück oder sogar noch die Eltern im Wohnheim zu besuchen. Erreichen können wir diesen Standard aber nur durch das Zusammenspiel von Architekten, Investoren, Projektentwicklern und Nutzern, die multifunktionale Mixed-Use-Konzepte entwerfen, die ökonomisch, ökologisch und sozial tragbar sind. Um die mit der Nutzungsmischung einhergehende Flexibilität zu ermöglichen, braucht es jedoch mehr als ein Konzept – es braucht neuartige Betreibermodelle und insbesondere den Mut und die Bereitschaft der Vermieter, diese zu implementieren. Diejenigen Vermieter, die ihre Gebäude kuratieren oder kuratieren lassen, wirken aktiv auf Gestaltung, Flexibilität und Resilienz ihrer Objekte ein und sichern so deren langfristige Wertstabilität.

Anstelle der kurzfristig gedachten Vermietung der letzten Fläche an den höchstbietenden, immer gleichen Mieter entscheidet der Kurator über einen sozial, ökonomisch und ökologisch sinnvollen Mietermix unter Einbeziehung des Mixed-Use-Gedankens. Die Idee beinhaltet jedoch mehr als einen Gedanken. Sie beinhaltet zugleich einen Appell an die Politik: Um die Mischung der verschiedenen Nutzungen auf engstem Raum zu ermöglichen, benötigen wir dringend eine Liberalisierung unseres Baurechts in Deutschland. Nur so werden wir echte Urbanität erzielen. Hier lohnt ein Blick auf die Städte unserer europäischen Nachbarländer.

Vision 4: Mit nachhaltiger Architektur zu mehr und authentischer Nachhaltigkeit

Während viele Probleme durch die Corona-Pandemie verstärkt zutage treten, rücken andere wiederum in den Hintergrund. Das akute Problem des Klimawandels etwa wird derzeit überlagert durch die Corona-Krise. Das Problem jedoch besteht weiterhin: Wir müssen die Dekarbonisierung vorantreiben. Die Art und Weise, wie wir unsere Städte denken und bauen, ist nicht nachhaltig genug. Nachhaltigkeit – kaum ein Begriff wird heutzutage wohl so inflationär genutzt. Er kann sehr vieles meinen, aber wenig fordern. Zumindest in seiner Umsetzung.

In den deutschen Städten reicht der Gedanke der Nachhaltigkeit oft nur so weit, dass über Solaranlagen, grüne Dächer und Grünflächen gesprochen wird. Doch der Begriff Nachhaltigkeit beinhaltet viel mehr. Er besitzt immer soziale, ökonomische und ökologische Komponenten. Somit reicht es eben nicht mehr, neue Gebäude zu bauen und ihre Dächer zu begrünen und mit Solaranlagen auszustatten. Authentische Nachhaltigkeit bezieht zunächst immer den vorhandenen Gebäudebestand mit ins Kalkül. Bei bereits vorhandenen Gebäuden sollte die Revitalisierung hinsichtlich der in ihnen enthaltenen grauen Energie immer als Erstes in Betracht gezogen werden. Selbst wenn der Bestand sich als unwirtschaftlich erweist und keine Grundlage für neue Nutzungsmöglichkeiten darstellt, kann beim Neubau immer noch auf recycelte Materialien gesetzt werden. Auch andere energieeffiziente Baustoffe, wie etwa Holz, erweisen sich immer mehr als echte und klimatisch sinnvolle Alternative zum herkömmlichen Betonbau.

Fakt ist: Es gibt unzählige Möglichkeiten und Bausteine, die Dekarbonisierung voranzutreiben. Und Fakt ist auch: Durch die Gesamtheit aller Kriterien entstehen Konzepte, die flexibel und damit resilient sind. Sie entsprechen den Sustainable Development Goals (SDG) der UN. Viele Unternehmen und Anleger scheuen sich (noch) vor derartigen Investitionen. Dabei zeigt sich längst, dass diese nachhaltige Art zu investieren eine viel stabilere Rendite abwirft. Warum also als Unternehmen oder Privatperson nicht in unsere Städte investieren und die Stadt und Innenstadt der Zukunft nach nachhaltigen Kriterien qualitativ lebenswerter mitgestalten?

Vision 5: Zukünftige Quartiersentwicklung – gesunde Stadt, gesunde Menschen

Aktuell gibt es einige Überlegungen zur 15-Minuten-Stadt, die durch die Pandemie verstärkt zutage treten. So simpel sich die Idee dahinter präsentiert, so genial ist sie: Alle lebensnotwendigen Geschäfte und Einrichtungen innerhalb eines Quartiers sollen künftig fußläufig innerhalb einer Viertelstunde erreichbar sein. Was zunächst utopisch anmutet, lässt sich peu à peu gut umsetzen. Anstelle eines radikalen Bruchs mit dem bisherigen Stadtbild liegt es an den Architekten der Stadt, die Menschen nach und nach mitzunehmen. Hier eine schmalere Autospur, dort eine gesperrte Straße, die Fußgängerzone und Radwege erweitern, und so weiter.

Sogar Millionenmetropolen wie Paris ergreifen gegenwärtig Maßnahmen, die die 15-Minuten-Stadt in Gang bringen sollen. Das könnte deutschen Städten gleichermaßen gelingen. Menschen brauchen immer Zeit zur Umgewöhnung. Gerade aus diesem Grund bieten sich vor allem kleinere Veränderungen zur stetigen Veränderung des Stadtbilds an. Im Münchener Stadtviertel Berg am Laim entsteht mit „DIE MACHEREI“ beispielsweise derzeit ein Mixed-Use-Quartier, das Mietern und Anwohnern gleichermaßen kurze Wege bietet. Diese Art der Quartiersentwicklung birgt nicht nur mehr Lebensqualität. Sie verändert auch die Lebensbedingungen ihrer Bürger, indem sie auf deren Gesundheit einwirkt. Kurze Wege nämlich sind immer ein Anreiz, sich mehr zu bewegen. Saubere Luft und lebendigere Innenstädte ebenso. Das Ziel der neuen Quartiersentwicklung wie auch der Innenstadt der Zukunft lautet also: ein gesünderes Leben in einer lebenswerteren, durchmischteren, nachhaltigeren und lebendigeren Stadt.

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Geschrieben von:

Stefan Schillinger

Stefan Schillinger ist Managing Partner der ACCUMULATA. Der studierte Wirtschaftsgeograph und Volkswirt ist seit mehr als 13 Jahren als Development und Asset Manager bei namhaften Immobilienunternehmen tätig. Er war an Developments und Refurbishments mit einem Projektvolumen von mehr als 2 Mrd. Euro beteiligt. Neben dem Development gewerblicher und wohnwirtschaftlicher Projekte in zentralen Lagen deutscher Großstädte ist Schwerpunkt der Tätigkeiten des Münchener Projektentwicklers und Investmentmanagers ACCUMULATA das Redevelopment großvolumiger Handelsimmobilien, wie z. B. das FORUM STEGLITZ in Berlin oder der ehemalige Karstadt Sports am Stachus in München.

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  • Erschienen am:
    09.06.2021
  • um:
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