Als „Gründerzeit” werden die Jahre zwischen 1840 und dem ersten Weltkrieg bezeichnet. In dieser Zeit nahm Wien im Wohnbau eine rasante Entwicklung, welche die Stadt bis heute prägt und ihr auch ein spezielles Flair verleiht. Im Zeitraum von 1856 bis 1917 wurden in Wien rund 460.000 Wohnungen errichtet, was für die damalige Zeit eine unglaubliche Bautätigkeit darstellte. Es entstanden die in Wien so typischen Zinshäuser.
Motor der Entwicklung war die Bevölkerungsexplosion, die im Zuge der Industrialisierung stattfand. Während um 1800 auf dem Gebiet der heutigen Stadt Wien rund 250.000 Menschen lebten, waren es um 1910 über zwei Millionen. Dieser enorme Zuzug und das Aufbrechen der traditionellen sozialen Bindungen in der Großfamilie und zwischen Arbeitgeber und Angestellten erhöhten den Bedarf an Wohnraum in der Stadt.
Wurzeln des Wohnbaus
Eine der Wurzeln des Wohnbaues des 19. Jahrhunderts waren die Stiftshöfe und Klostergebäude in der Stadt, die nach der Josephinischen Klosterreform eine große Wohnraumreserve boten: Relativ große Bauten mit wenigen Einheiten, um Höfe angeordnet und durch diese erschlossen. Nach diesem Muster wurden auch die großen Wohnhausanlagen des frühen 19. Jahrhunderts errichtet, meist von adeligen Grundherren, die die finanziellen Mittel für große Wohnanlagen aufbringen konnten. Die Bautätigkeit konnte aber mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten: In den 1840er Jahren lebten in Wien und den Vororten bereits 500.000 Menschen und die mangelhaften Wohnverhältnisse waren ein wesentlicher Faktor für den Ausbruch der Revolution von 1848. Zur Verringerung der sozialen Sprengkraft wurde 1849 der Neubau von Wohnhäusern steuerlich begünstigt und zur Verbesserung der Verwaltung 1850 die 34 Vororte bis zum Linienwall (dem heutigen Gürtel) eingemeindet.
Das Bürgertum mischt mit
Der Wohnbau wurde mittlerweile auch für das Bürgertum zunehmend interessant und mit den neuen Auftraggebern änderte sich auch die Gestalt der Wohnbauten: Die Grundstücke, die einen ganzen Straßenblock umfassten, wurden aufgeteilt, da sich die bürgerlichen Bauherren nicht die Bebauung eines ganzen Blocks leisten konnten. Die organisatorisch völlig selbständigen Einzelhäuser des Blocks wurden auch nach außen zunehmend differenziert. Diese Blockrandbebauung bleibt bis 1918 der prägende Typ der Wohnhausbebauung. Stilistisch werden die Häuser weiter entwickelt. Die frühen Wohnbauten zeigen die traditionellen Elemente, die aus der antiken Baukunst übernommen wurden und lehnten sich damit an den Stil an, in dem – natürlich repräsentativer und reicher ausgestattet – die Bauten des Hofes errichtet wurden. Später werden auch andere stilistische Anregungen aufgegriffen und mit dem Beginn der Hochgründerzeit – die von 1870 bis 1890 dauert – tritt ein dramatischer Stilwechsel ein. Ausgelöst durch die neuen öffentlichen Monumentalbauten der Ringstraße (Hofburg, Museen, Parlament, Rathaus, Universität) werden die Formen der staatlichen Repräsentation auch von den privaten Bauherren übernommen.
Monotonie innen, Individualität außen
Während die Häuser im Inneren relativ einheitlich gestaltet und organisiert werden, wird viel Aufwand für die Individualisierung nach außen aufgewendet. Stilistische Mittel sind die starke Gliederung der Baukörper, plastischer Dekor oder die Verbindung mehrerer Geschoße durch vorgeblendete Säulen an der Fassade. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind groß, da die Fassadenelemente aus einem reichen Angebot an industriellen Serienprodukten ausgewählt werden können. Andererseits entsteht aber durch die großflächige Wiederholung ähnlicher Elemente eine gewisse Monotonie in den Straßenzügen. Trotzdem: Der von den Zeitgenossen oft kritisierte Fassadenschmuck ist ein typisches Wiener Phänomen: In keiner anderen Europäischen Großstadt wurde er so prächtig auch an einfachen Wohnbauten ausgeführt. Der Jugendstil, der für Wien eine so prägende Stellung einnimmt, ist im Wohnbau nicht ganz so bedeutend. Er ist der Stil der Avantgarde, des fortschrittlichen Bürgertums, der öffentlichen städtischen Bauten.
Wien wächst weiter
Die großflächige Bebauung der Vorstädte wird durch die Entwicklung leistungsfähiger Massenverkehrsmittel begünstigt. Die Straßenbahn bindet die Vororte ab etwa 1865 an die Stadt an. Die zweite Eingemeindung (1890) erfasste die westlichen und südlichen Vororte; sie erweiterte die Stadtfläche auf 178 Quadratkilometer und die Einwohnerzahl auf 1,364.000 Millionen. Viele Zinshäuser wurden daher in den Bezirken 10 und 12 sowie 14 bis 18 errichtet. Der Bedarf für die dort lebenden Arbeiterfamilien an Wohnraum ist enorm. Die Errichtung von kleinen, erschwinglichen Wohnungen wird gefördert, wenn gewisse hygienische Mindeststandards eingehalten werden, wie zum Beispiel keine Souterrainwohnungen oder Wasserversorgung auf jedem Stockwerk – die berühmte „Bassena“. Um die Bodenrendite dennoch zu erhalten, wird der mögliche Bebauungsgrad auf 85 Prozent des Grundstücks angehoben, das heißt, die Höfe werden zu Lichtschächten reduziert. Die prächtigen Fassaden sollen über den niedrigen Standard der Häuser hinwegtäuschen, was aber auch auf den Wunsch der Bewohner zurückzuführen ist, denn ungeschmückte Häuser waren auch schon damals am Markt viel schwerer zu vermieten.