Mit der Bauordnung von 1859 wurden erstmals „umfangreichere“ Rahmenbedingungen vorgeschrieben: Dabei wurden als Eckpunkte die maximale Gebäudehöhe von 24,7 Metern (damals 13 Klafter) festgelegt, sowie eine Mindeststraßenbreite von 15,2 Metern (8 Klafter)– die Raumhöhe musste mindestens 3,16 Meter betragen (das entsprach 10 Schuh). In zentralen Lagen konnten mit diesen Vorgaben bis zu fünf Stockwerke errichtet werden. In den Vororten waren für die mögliche Gebäudehöhe drei und in den Vorstädten vier Stockwerke vorgesehen, wobei jedoch die Raumhöhe einen Schuh (31 Zentimeter) niedriger als in der Altstadt sein durfte.
Diese maximale Bauhöhe sowie die Generalbaulinie der breiten und rechtwinkelig zueinander laufenden Straßen, die in einem Raster angelegt wurden, gaben das klare Korsett für die Bauherren vor.
Damit waren zwar die Höhe und die Zahl der Geschoße reglementiert, die Anzahl der Wohnungen und deren Ausgestaltung blieben dem Bauherrn selbst überlassen. Eine wesentliche Voraussetzung ist allerdings in Paragraph 27 der Bauordnung noch aufgeführt: „Bezüglich der Nachhaltigkeit wird festgehalten, dass der Bauführer (ausdrücklich) gute und dauerhafte Materialien verwenden soll.“ Auf die Erdgeschoßzonen wird in Paragraph 30 kurz und bündig eingegangen: Sie sollten so gestaltet sein, dass im Erdgeschoß Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen der Bauführers ermöglicht werden, jedoch Wohnflächen nur unter besonderen Bedingungen zulässig sind.
Weniger ist mehr
Damit waren die Fixpunkte festgelegt, und wenn man die heutige Bauordnung betrachtet, so muss man sagen: Weniger ist mehr. Seit den 50er bzw. 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts kommt es zu einer deutlich strikteren Aufteilung der Funktionen. Die Wohnungen haben ab diesem Zeitpunkt die Flexibilität verloren, welche Altbauwohnungen auszeichnet.
Nicht nur die Flexibilität, noch einen anderen wesentlichen Vorteil haben die Wohnungen heute nicht mehr: Die Chance, nach „oben“ zu bauen. Hochbetten, Abstellbereiche oder auch Galerien sind faktisch nur in Altbauten mit ihren entsprechenden Zimmerhöhen möglich. So hat sich schon so mancher Umzug erübrigt. Zwei Hochbetten mit einer Wohnlandschaft darunter, und schon stehen 8 Quadratmeter mehr in der Wohnung zur Verfügung.
Mit der Bauordnung war somit der Weg bereitet für ein unglaublich flexibles Gebäude, das nicht nur baukulturell bemerkenswert ist, sondern auch charakteristische Qualitäten hat, die vor allem in der Flexibilität des Inneren liegen.
Der legitime Nachfolger
Als Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema „Die Stadt 2020“ (PDF, 370 KB) hat die Projektgemeinschaft raith nonconform architektur vor Ort gemeinsam mit der TU Wien „DAS NEUE STADTHAUS®“ entwickelt. Das neue Stadthaus bietet ein zeitlich nahezu unabhängiges Grundsystem bzw. ein Halbfertigprodukt, das sich offen und flexibel– so wie das Gründerzeithaus– gerade notwendigen Bedürfnissen anpassen lässt. DAS NEUE STADTHAUS® soll sein Nachfolger sein und vor allem auch in bereits bebauten Vierteln zur Sanierung und Verdichtung von Bezirken eingesetzt werden.
Die Bauordnung passt sich an
Der Grund, warum bis dato noch keine Stadthäuser errichtet wurden, liegt in der Wiener Bauordnung. Da bei Neubauten nicht die Bruttogeschoßfläche, sondern die Höhe der entscheidende Faktor ist, fällt durch höhere Räume ein Geschoß weg, womit sich die Häuser als „Renditeobjekt“ für einen Investor schwer rechnen lassen– auch wenn man durch die höheren Räume und entsprechend hohen Fenster eine größere Trakttiefe erreichen kann. Mittlerweile hat aber die Stadt Wien reagiert und beginnt die Bauordnung zu lockern, um die Entwicklung eines nutzungsoffenen und zukünftig anpassungsfähigen Gebäudekonzepts zu ermöglichen. Ein mixed-use-Building ist eben nur so gut wie es auch flexibel ist, denn das lässt temporär unterschiedliche Nutzungsarten zu– eine sehr wichtige Eigenschaft, da sich die Bedeutung einer Lage ändern kann. So können wir im Ersten Bezirk Wiens wieder eine Zunahme an Nutzung von Immobilien für Wohnzwecke beobachten, die vorher als Büro gewidmet waren.
Flexibilität wird ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für die Attraktivität von Städten in der Zukunft sein.
Die authentische Stadt
Viele europäische Städte durchlaufen derzeit einen Wandel. Das Motto lautet: „Zurück in die Städte!“ In eine funktionierende Stadt mit kurzen Wegen, kultureller Vielfalt, infrastrukturellen Einrichtungen und sozialen Treffpunkten. Es ist zu erwarten, dass sich die Städte umstrukturieren werden. Das Besondere der Stadt wird wieder in den Vordergrund gestellt, und nicht die Uniformität. Attraktive Stadtteile werden wieder verstärkt zur Identifikation der Stadt selbst führen und eine hohe Aufenthaltsqualität bieten müssen.
Vielfalt und Authentizität sind es, die das Besondere einer Stadt ausmachen. Die Städte werden in Zukunft wieder durch eine Form von Kleinteiligkeit– die berühmten Grätzel– geprägt werden und entdecken damit ihre Vielfalt und Einzigartigkeit wieder.
Flexible Hausstrukturen, ob Alt- oder Neubau, sind ideal dafür geeignet, diesen neuen Ansprüchen von Wohnraum, Büro, sozialen Einrichtungen, Geschäftslokalen und emissionsfrei produzierendem Gewerbe gerecht zu werden. Vor allem die Gründerzeithäuser, die auf Grund einer Bauordnung von vor 160 Jahren errichtet wurden, haben in einer sich verändernden Stadt beste Voraussetzungen.
Es sind eben Alleskönner. Gestern, heute und morgen.
Der Artikel stammt aus dem aktuellen Zinshausmarktbericht der Otto Immobilien Gruppe.