Haben Sie das Buch „Blackout“ des österreichischen Autors Marc Elsberg gelesen? Der Technik-Thriller wurde zwar bereits 2012 geschrieben, aber noch nie hatte er mehr Aktualität als heute. In den Nachrichten scheinen wir langsam auf ein solches Ereignis vorbereitet zu werden. Es ist ein erschreckendes Szenario, das sich da auftut. Das Schlimme daran ist, dass ein Blackout von einer Sekunde auf die andere stattfinden kann. Damit verändert sich die Welt rundum.
Wohlige Schauer
Wohlig fürchtet man sich beim Lesen, und es entsteht ein Gänsehaut-Gefühl. Man malt sich die Situation aus, wie es wäre, wenn plötzlich der Strom ausfiele – und nichts mehr ginge. Aber man lässt die Gedanken nur bis zu einem gewissen Punkt zu. Sobald man den nämlich erreicht hat, an dem es wirklich unangenehm wird, neigt man dazu zu stoppen. Oder besser: die Vorstellung zu verdrängen. Man möchte sich damit nicht mehr auseinandersetzen und liest lieber die fiktive Geschichte weiter. Das ist natürlich nur mit einem Buch möglich. Nicht in der Realität.
Ohne Vorwarnung
In der Realität ist man mittendrin. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht auf der Straße, im Wagen oder in der eigenen Wohnung, sondern in einem Aufzug. Auf einer Fläche, die zumeist sogar kleiner ist als die eigene Toilette. Der Unterschied: An den Wänden montierte Spiegel suggerieren eine gewisse Weitläufigkeit, damit man nicht gleich beim Einsteigen in Panik verfällt. Da steht man also jetzt drinnen. Nichts geht mehr. Weder aufwärts noch abwärts.
Ob es angenehmer ist, allein oder mit anderen Personen im Aufzug zu stecken, ist eine Frage der Größe desselbigen und der erlaubten Anzahl an Personen. Betrachtet man die im jeweiligen Aufzug mögliche Personenanzahl, dann stellt sich schon die Frage, wie viel Platz einem noch bleibt, wenn der gesetzliche Rahmen voll ausgeschöpft wird.
Ratschläge im Netz
Im Internet finden sich zahlreiche Tipps, wie man sich im Fall des Steckenbleibens verhalten soll. Die Psychologen empfehlen: „Ruhig bleiben und gleich Hilfe holen – durch das Drücken der Alarmglocke oder, wenn man Empfang hat, mit dem Handy.“ Das ist natürlich richtig. Aber leider befinden wir uns in einem Blackout. Da geht nichts mehr.
Schnelle Veränderung
Laut dem Wiener Aufzugsgesetz dürfen zwischen dem Zeitpunkt der Abgabe des Notrufs im Fahrkorb und dem Beginn von Maßnahmen zur Personenbefreiung maximal 30 Minuten liegen. Dieser Zeitraum kann für den einzelnen Fahrgast sehr lange oder sehr kurz sein. Eine Befreiungsaktion der Feuerwehr hängt daher nicht bloß von der Tüchtigkeit der Einsatzkräfte ab, sondern auch von der Psyche der Befreiten. Also davon, wie weit sich diese während des Eingesperrtseins verändert hat. Das kann bei einigen Leidtragenden marginal sein, bei anderen aber doch recht heftig ausfallen. Erfahrene Feuerwehrleute der Wiener Berufsfeuerwehr haben bereits nach der normierten maximalen Wartezeit von 30 Minuten nachhaltige Verhaltensstörungen der Eingesperrten bemerkt.
Wie sich die geistige Gemengelage nach einem, zwei oder fünf Tagen darstellt, ist nicht auszumalen. Wobei hier auch eines nicht vergessen werden darf: Der expansive Fortschritt der Klaustrophobie hängt letztendlich nicht nur von der Dauer ab. Das wirklich Herausfordernde – so die Psychologen – ist die Ungewissheit über die Länge des Aufenthalts. Wenn sich der Lift nicht bewegt, dann geht es nämlich emotional sehr rasch auf- oder abwärts.
Die vier Schocks
Die psychologischen Ratschläge auf den Internetseiten sind also prinzipiell gut, aber im Falle eines Blackouts zu vergessen. Der erste Schock kommt nämlich, wenn man versucht, zu telefonieren, und feststellen muss, dass das nicht geht. Der zweite Schock findet statt, wenn man die Nottaste drückt und die nicht funktioniert. Der dritte, wenn man außerhalb seines Gefängnisses im Stiegenhaus aufgeregte Stimmen vernimmt – Menschen, die mit sich selbst und einer offensichtlichen extremen Notlage beschäftigt sind. Der vierte Schock tritt ein, wenn man so nach und nach mitbekommt, was da draußen eigentlich gespielt wird. Man steckt im Dunklen fest und erkennt, dass nicht nur der Aufzug, sondern die ganze Stadt ohne Strom ist.
Notsituation in der ganzen Stadt
Wie es draußen zugeht, das will man sich ja gar nicht ausmalen. Von einer Notsituation wie einem Blackout ist alles betroffen: das gesamte Grätzel, Viertel oder die Stadt. Jeder ist mit den eigenen Problemen beschäftigt. Und natürlich auch die Hausparteien. Je höher das Stockwerk, desto größer die Probleme. Man muss daher davon ausgehen, dass die eigenen Hilferufe im Chaos des Hauses untergehen.
Im Normalfall wäre man in spätestens 30 Minuten befreit, aber allein die Tatsache, dass alle Aufzüge gleichzeitig nicht mehr funktionieren, zeigt, wie unmöglich die Hoffnung auf eine schnelle Rettung ist. Da hilft auch kein Aufzugsgesetz.
WAZG 2006 – das Wiener Aufzugsgesetz
Gemäß § 12 Abs. 10 des Wiener Aufzugsgesetzes 2006 (WAZG 2006) hat der Betreiber dafür Sorge zu tragen, dass im Fahrkorb eingeschlossene Personen möglichst innerhalb von 30 Minuten nach der Notrufabgabe befreit werden. Das Fernnotruf-System und die Notbeleuchtung einer Aufzugsanlage müssen nach der ÖNORM EN 81-20 auch im stromlosen Zustand eine Stunde funktionsfähig sein.
Gemäß § 12 Abs. 1 WAZG 2006 sind für jeden Aufzug zur Personenbeförderung Aufzugswärter oder Aufzugswärterinnen oder Betreuungsunternehmen zu bestellen. Diese sind berechtigt und verpflichtet, Notbefreiungen im Bedarfsfall durchzuführen. Die Feuerwehr führt Notbefreiungen nur dann durch, wenn diese Personen beziehungsweise Unternehmen dazu nicht in der Lage sind.
Gut gemeint, aber unmöglich
Diese werden nicht in der Lage sein und die Feuerwehr auch nicht. Einige Fakten zeigen, dass eine zeitnahe Befreiungsaktion durch offizielle Stellen fast unmöglich ist. Laut der Auskunft der Stadt Wien gibt es in der Stadt derzeit über 50.000 Aufzüge. Davon befinden sich 7.900 in den Wiener Gemeindebauten. Österreichweit werden pro Jahr ca. 4.000 bis 4.500 neue Aufzüge errichtet, wobei die meisten in der Bundeshauptstadt installiert werden. Bei ungefähr zehn bis 20 Prozent der Anlagen handelt es sich um Replacements, das heißt, alte Anlagen wurden demontiert und durch neue ersetzt. Gleichzeitig bedeutet das, dass der tatsächliche Bestand an Aufzügen jährlich um mehr als 3.000 Anlagen in Österreich wächst.
Eine mathematische Unmöglichkeit
In Wien gibt es 24 Wachen der Berufsfeuerwehr und zwei Wachen der Freiwilligen Feuerwehr mit insgesamt über 1.800 Einsatzkräften. Dazu kommen 53 Betreuungsunternehmen für Aufzüge laut WAZG. Bei 50.000 Aufzügen, die plötzlich alle still stehen und von denen rund acht bis 15 Prozent (je nach Tageszeit und Wochentag) gerade benutzt werden, braucht man kein großer Mathematiker zu sei, um auszurechnen, wann eine Chance auf Befreiung besteht.