Zum Thema passend treffen wir uns auf einem Brownfield. Das heißt, auf einem ehemaligen Brownfield: dem Nordbahnhofgelände. Erstaunlich, was sich getan hat und wie diese einst ungeliebte Gegend zu einem prosperierenden Stadtteil geworden ist. Bernhard Steger erinnert sich an seine Studienzeit: „Im ersten Studienabschnitt haben wir uns im dritten Semester mit dem Nordbahnhof beschäftigt, und da gab es bereits einen 1994 beschlossenen Masterplan von Heinz Tesar und Boris Podrecca. Er war also schon damals ein Thema, aber ist jetzt noch immer nicht ganz fertig.“ Dabei waren die Voraussetzungen ideal, da es nur einen Liegenschaftseigentümer, nämlich die ÖBB, gab. Nach dem Wettbewerb 2010/2012 ist es dann schnell gegangen. Bernhard Steger erinnert sich, dass die diagonale Erschließung des Brownfields als Konzept „damals schon bestanden hat“, allerdings handelte es sich um ein Blockrastersystem. Letztendlich wurde das Konzept des Wettbewerbssiegers StudioVlayStreeruwitz dann abgeändert und die Baumasse am Rand „zusammengeschoben“. Damit wurde Platz für Grünräume geschaffen, wie etwa für „Freie Mitte“ als zentraler Grünraum. Jetzt wächst das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs langsam zu einem neuen Stadtteil zusammen.
Flexibilität für Entwicklungen
„Solche Prozesse dauern einfach“, meint Steger, stellt aber fest, dass sie schneller werden. Er selbst wohnt am Nordbahnhof und beobachtet, dass jedes Jahr etwas Neues dazukommt, „und das Gebäude, in dem wir uns hier treffen, hätte vor fünf Jahren nicht so funktioniert“. Brownfields in diesem Maßstab müssen zwar koordiniert werden, aber auch organisch wachsen. Wesentlich ist auch, „dass die Ideen umgesetzt werden und ein städtebauliches Konzept entwickelt wird, das sich mit der Umgebung verbindet“, so Evgeni Gerginski. Claudia Brey: „Wenn man sich die Zeit für die Entwicklung nimmt, dann kann man auch auf Veränderungen reagieren. Man braucht Flexibilität für Entwicklungen, die man zur ‚Stunde null‘ noch nicht kennt.“ Die Rahmenbedingungen verändern sich, und so waren auch am Nordbahnhof anfänglich ausgedehnte Handels- und Handwerkseinrichtungen in der Erdgeschoßzone geplant – das war aber letztendlich nicht mehr zeitgemäß. Claudia Brey erinnert außerdem daran, dass die erste Projektbesprechung zum Nordwestbahnhof vor 20 Jahren stattgefunden hat. Kleinere innerstädtische Brownfields sieht Michaela Koban allerdings als „heraufordernd“ an. Es handelt sich bei diesen Brownfields um Gebäude, die industriell genutzt wurden und die jetzt als Gebäude oder als Fläche in die Umgebung integriert werden sollen. „Man ist bei den Möglichkeiten weniger flexibel, da die Entwicklung in das Gesamtkonzept des Gebiets passen muss“, so Michaela Koban.
Alte Widmungen
Brownfields haben in Wien das grundsätzliche Problem, dass sie vielfach noch mit einer Widmung aus den 60er-Jahren versehen sind. Daraus ergibt sich, dass man viele Brownfields innerstädtisch in diesem Sinn gar nicht ordentlich bebauen kann und viele Projektentwickler daher ihre Finger von dem Thema lassen. Dabei wären sie die ideale Möglichkeit, um Stadtgebiete sinnvoll zu ergänzen. „Es geht darum, wo das Brownfield liegt“, so Andreas Hawlik: „Es ist ein Stück Stadt, und da könnte man etwas Passendes oder Ergänzendes hineinsetzen. Je nach Umgebung und Infrastrukturanbindung kann ich entscheiden, welche Nutzung hineinkommt.“ Wenn über Abbruch und Neubau gesprochen wird, dann stellt sich die Frage, ob es eine klare Strategie der Stadt gibt, was abgebrochen und was erhalten werden darf. Wäre es sinnvoll, mit dem Bebauungsplan dafür eine sinnvolle Regelung zu finden? Bernhard Steger: „Der Bebauungsplan kann das insbesondere über die Schutzzonen definieren.“ Ein zusätzliches aktuelles Thema ist, dass die bestehenden Gebäude einen hohen Anteil an CO2 gespeichert haben und es sich um eine Klimaschutzmaßnahme handelt, die bestehende Gebäudestruktur so lange wie möglich auszunutzen. „Da kann man mit dem Bebauungsplan nicht tun“, so Bernhard Steger. Das Problem daraus erklärt Evgeni Gerginski: „Es ist nicht immer von Anfang an klar, was man vonseiten der Stadt erhalten möchte.“ Für Projektentwickler ergibt sich daraus eine große Unsicherheit: Sie wissen erst relativ spät, was auf den Liegenschaften errichtet werden kann.
Wo liegt der Bedarf?
„Ein ganz wesentlicher Schritt vor den städtebaulichen Visionen ist zu fragen: Wo liegt der Bedarf?“, meint Peter Ulm, der federführend für das Stadtquartier Zukunftsanker auf dem Gelände der ehemaligen Ankerbrot-Fabrik verantwortlich ist. Die Qualität des Quartiers auf einem Brownfield „entsteht im Erdgeschoß, in den gewerblich genutzten Flächen und auf der Straße“. Diskussionen und Gespräche mit denen, die danach diese Flächen „bespielen“, sei das Um und Auf, so Peter Ulm. In Bezug auf die Erdgeschoßflächen ist für ihn die Lösung, die man in der Seestadt Aspern mit SES gefunden hat, durchaus interessant. SES managt alle Erdgeschoße in dem Stadtteil. „Wesentlich ist: Wie schaffen wir ein Quartiersgefühl? Wie schaffen wir es als Investoren, dass eine Erdgeschoßfläche belebt bleibt?“ „Man muss ein Bild der zukünftigen Bewohner des Viertels haben“, sagt Claudia Brey. Für sie macht es einen großen Unterschied, „ob man den Stadtteil plant oder eine gewachsene Struktur hat, wie in der Neubaugasse.“ Wobei auch in der Einkaufsstraße in Wien-Neubau mittlerweile eine konzentrierte Koordination stattfindet.
Ein Aspekt darf allerdings nicht übersehen werden: Brownfield-Entwicklungen sind ein regionales Thema. Michaela Koban: „Ich muss die Ideen den örtlichen Gegebenheiten, Anforderungen und Bedürfnissen anpassen.“ New York, Paris oder London sind nun einmal anders als Wien. Wie regional die Entwicklung wirklich ist, bringt Claudia Brey auf den Punkt: „Was in der Neubaugasse funktioniert, wird nicht notwendigerweise auch am Nordbahnhof funktionieren.“
Durchmischte Quartiere
„Jede Stadtentwicklung muss 24 Stunden leben – die großen Monokulturen waren schon immer ein Problem“, sagt Peter Ulm und outet sich als Fan der 15-Minuten-Stadt: „Alles muss fußläufig erreichbar sein. Ich bin kein Anhänger davon, einen hundertprozentigen Gewerbestandort zu machen, wie es die Stadt gerne sehen würde.“ Ab einer gewissen Größe muss Wohnbau mit eingeplant werden, denn ein Quartier kann nicht leben, wenn „ab 20.00 Uhr die Gehsteige hochgeklappt werden“. Aktuell überlegt man sich bei den Verantwortlichen der Stadt Wien, wie man in gewerblichen Mischgebieten Wohnen hinzufügen soll. Bernhard Steger: „Das ist ein Thema im Stadtentwicklungsplan, das man sich jetzt anschaut, und man möchte die strikten Regeln etwas lockern.“ Dennoch hat die betriebliche Nutzung Vorrang, und „es ist wichtig, hier eine Perspektive und eine Klarheit reinzubringen“. Michaela Kobans Wunsch wäre es, „jeden Standort samt seiner Umgebung individuell analysieren zu können und eine entsprechende Aufteilung zu ermöglichen“. Der Vorteil einer gemischten Nutzung besteht auch darin, dass es unterschiedliche Energielieferanten gibt – bei neu entwickelten Quartieren stellt das eine Chance dar, um diese energieeffizient zu bewirtschaften. So wird das gesamte VILLAGE IM DRITTEN in puncto Energieversorgung europaweit neue Maßstäbe setzen. Im VILLAGE IM DRITTEN entwickelt die ARE Austrian Real Estate frei finanzierte Miet- und Eigentumswohnungen genauso wie Büro- und Gewerbeflächen. Michaela Koban: „So viel Energie wie möglich soll vor Ort produziert und verwendet werden. Dazu haben Wien Energie und ARE ein klimafreundliches, baufeldübergreifendes Gesamtkonzept für die Wärme-, Kälte- und Stromversorgung der Gebäude entwickelt.“
Eine wichtige Funktion erfüllen die Brownfields aber nicht nur für die Struktur der Stadt, sondern auch für die Gesellschaft. „Je mehr unterschiedliche Zentren eine Stadt hat, desto attraktiver wird sie. Kleine Stadtzentren haben eine regionale Anziehungskraft“, meint Peter Ulm, und würde es nach ihm gehen, wäre es besser, es gäbe nicht einen großen Naschmarkt, sondern fünf kleine. Für Andreas Hawlik stellt die Abwechslung von Enge und Weite einen wesentlichen Aspekt einer Stadt dar: „Es braucht die Weite wie etwa durch einen Park, aber es braucht auch Nischen und Plätze mit einer gewissen Enge, denn hier entsteht ein Gemütlichkeitsgefühl.“ All diese Aspekte sorgen letztendlich dafür, dass aus Brownfields akzeptierte Stadtteile werden.